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Immorality Engine

Immorality Engine

Titel: Immorality Engine
Autoren: George Mann
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er ihr erklärt hatte, um den Albträumen ein
Ende zu setzen.
    Seine Methoden waren sicherlich extrem zu nennen – so sperrte
er sie beispielsweise in ihrem Zimmer ein und gestattete keinen Besuch –,
doch Amelia sah keinen Grund, sich den ärztlichen Anweisungen zu widersetzen.
Immerhin schien sich ihr Zustand tatsächlich zu bessern, ihre Kräfte wuchsen,
und sie hatte etwas zugenommen. Wenn sie wusste, dass niemand sie beobachtete,
hatte sie sogar ein paar zögernde Schritte auf den eigenen Beinen gemacht. Am
wichtigsten aber war, dass die Anfälle aufgehört hatten.
    Das hätte sie eigentlich ermuntern und beleben sollen, und doch
konnte sie die beharrliche Melancholie nicht abschütteln, die von ihr Besitz
ergriffen hatte. Eine Melancholie und … Furcht. Furcht vor der Zukunft und vor
den Dingen, die sie in ihren Träumen erblickt hatte. Es war auch die Furcht vor
dem Unbekannten. Vor den Dingen, die sie nicht gesehen hatte. Noch akuter war die Angst vor Mr. Calverton, Dr. Fabians verwirrtem,
schrecklichem Assistenten, vor diesem Ding , das einem
Albtraum entsprungen schien und mit der geordneten, gesunden Welt so wenig zu
tun hatte.
    Soweit sie es den Gesprächen mit dem Arzt hatte entnehmen können,
war Mr. Calverton früher ein ganz normaler Mann gewesen, der »im Rahmen seiner
Pflichterfüllung« die Beine verloren hatte. Dr. Fabian hatte persönlich einen
Ersatz entworfen. Die mit Dampf betriebenen Kolben waren eine bizarre Parodie
der biologischen Gegenstücke, versetzten den Mann aber wenigstens in die Lage,
ruckelnd und beinahe wie ein Clown zu laufen. Das Gesicht blieb hinter einer
glatten Porzellanmaske verborgen, nur die leeren, wässrigen Augen waren zu
erkennen. Außerdem trug er stets eine Smokingjacke aus schwarzem Samt, eine
Krawatte und weiße Handschuhe. Sprechen konnte er allem Anschein nach wohl
nicht, denn in all den Monaten, seit sie im Grayling Institute lebte, hatte
Amelia ihn noch nie auch nur einen Laut äußern hören. Sie fragte sich, welch
schreckliches Schicksal ihn ereilt hatte, da er nun derart beschränkt leben
musste.
    Amelia drehte den Kopf herum und blickte zur Tür. Sie rechnete jeden
Augenblick mit ihm: das Klackern der Metallfüße auf dem gefliesten Boden, das
Kratzen des Schlüssels im Schloss, dann die seltsamen Augen, die sie zu
durchbohren schienen.
    Sie schauderte. In einer anderen Situation hätte sie sich dem Mann
gegenüber vielleicht anders gefühlt, doch sie hatte einen Blick auf seine
Zukunft erhascht und wusste, dass seine Geschichte noch nicht zu Ende
geschrieben war. Die Wahrheit über Mr.
Calverton war noch nicht ans Licht gekommen.
    Nun ja, es war jedenfalls nicht
gut, ihm ihre Angst zu zeigen. Sie wollte beschäftigt wirken, wenn er kam.
Amelia lehnte sich im Rollstuhl zurück und langte nach einem Buch, das sie
aufgeschlagen auf einem Tischchen abgelegt hatte. Es war eine romantische
Geschichte mit einem reichen Grundbesitzer, der sich in ein Mädchen aus dem
Dorf verliebte. Natürlich war das alles ein großer Unfug, denn es spiegelte
eher Wunschträume als die Wirklichkeit wider, aber der Roman hatte sie trotzdem
in seinen Bann gezogen, denn er bot ihr eine Art Kontakt mit der Außenwelt und
einen Weg, hinauszugreifen und etwas zu berühren, das über das öde Alltagsleben
im Grayling Institute hinausging.
    Amelia fuhr den Rollstuhl vor den Kamin, blätterte die Seiten um und
nahm die farbenfrohe Fantasiewelt in sich auf. Sie stellte sich vor, der Garten
des Anwesens im Buch wäre mit denselben Formschnittbäumen und huschenden Tieren
gefüllt wie jene, die sie am Morgen von ihrem Fenster aus gesehen hatte. Sie malte
sich aus, sich an jenem Ort zu befinden.
    Eine Weile danach bemerkte Amelia die klappernden Schritte Mr.
Calvertons, der sich auf dem Flur ihrem Apartment näherte. Sie fuhr auf und
erkannte, dass sie auf dem Rollstuhl eingenickt war. Rasch hob sie das Buch,
das auf den Schoß gesunken war, und blätterte es durch, um die richtige Stelle
wiederzufinden. Dann kratzte schon der Schlüssel im Schloss, und mit einem
metallischen Klicken öffneten sich die Riegel.
    Amelia blickte nicht auf, als die
Scharniere quietschten. Vielmehr richtete sie den Blick unverwandt auf
das Buch und las dieselbe Zeile immer und immer wieder, ohne sie wirklich
wahrzunehmen. Ihre Gedanken rasten. In der Gegenwart dieses halb
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