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Im Westen Nichts Neues

Im Westen Nichts Neues

Titel: Im Westen Nichts Neues
Autoren: Erich Maria Remarque
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Schlaf; – das ist unsere Primitivität und unsere Rettung. Wären wir differenzierter, wir wären längst irrsinnig, desertiert oder gefallen. Es ist wie eine Expedition im hohen Eise; – jede Lebensäußerung darf nur der Daseinserhaltung dienen und ist zwangsläufig darauf eingestellt. Alles andere ist verbannt, weil es unnötig Kraft verzehren würde. Das ist die einzige Art, uns zu retten, und oft sitze ich vor mir selber wie vor einem Fremden, wenn der rätselhafte Widerschein des Früher in stillen Stunden wie ein matter Spiegel die Umrisse meines jetzigen Daseins außer mich stellt, und ich wundere mich dann darüber, wie das unnennbare Aktive, das sich Leben nennt, sich angepaßt hat selbst an diese Form. Alle anderen Äußerungen liegen im Winterschlaf, das Leben ist nur auf einer ständigen Lauer gegen die Bedrohung des Todes, – es hat uns zu denkenden Tieren gemacht, um uns die Waffe des Instinktes zu geben, – es hat uns mit Stumpfheit durchsetzt, damit wir nicht zerbrechen vor dem Grauen, das uns bei klarem, bewußtem Denken überfallen würde, – es hat in uns den Kameradschaftssinn geweckt, damit wir dem Abgrund der Verlassenheit entgehen, – es hat uns die Gleichgültigkeit von Wilden verliehen, damit wir trotz allem jeden Moment des Positiven empfinden und als Reserve aufspeichern gegen den Ansturm des Nichts. So leben wir ein geschlossenes, hartes Dasein äußerster Oberfläche, und nur manchmal wirft ein Ereignis Funken. Dann aber schlägt überraschend eine Flamme schwerer und furchtbarer Sehnsucht durch.
    Das sind die gefährlichen Augenblicke, die uns zeigen, daß die Anpassung doch nur künstlich ist, daß sie nicht einfach Ruhe ist, sondern schärfste Anspannung zur Ruhe. Wir unterscheiden uns äußerlich in der Lebensform kaum von Buschnegern; aber während diese stets so sein können, weil sie eben so sind und sich durch Anspannung ihrer Geisteskräfte höchstens fortentwickeln, ist es bei uns umgekehrt: unsere inneren Kräfte sind nicht auf Weiter-, sondern auf Zurückentwicklung angespannt. Jene sind entspannt und selbstverständlich so, wir sind es äußerst angespannt und künstlich.
    Und mit Schrecken empfindet man nachts, aus einem Traum aufwachend, überwältigt und preisgegeben der Bezauberung heranflutender Gesichte, wie dünn der Halt und die Grenze ist, die uns von der Dunkelheit trennt – wir sind kleine Flammen, notdürftig geschützt durch schwache Wände vor dem Sturm der Auflösung und der Sinnlosigkeit, in dem wir flackern und manchmal fast ertrinken. Dann wird das gedämpfte Brausen der Schlacht zu einem Ring, der uns einschließt, wir kriechen in uns zusammen und starren mit großen Augen in die Nacht. Tröstlich fühlen wir nun den Schlafatem der Kameraden, und so warten wir auf den Morgen.
    *
    Jeder Tag und jede Stunde, jede Granate und jeder Tote wetzen an diesem dünnen Halt, und die Jahre verschleißen ihn rasch. Ich sehe, wie er allmählich schon um mich herum niederbricht. Da ist die dumme Geschichte mit Detering. Er war einer von denen, die sich sehr für sich hielten. Sein Unglück war, daß er in einem Garten einen Kirschbaum sah. Wir kamen gerade von der Front, und dieser Kirschbaum stand in der Nähe des neuen Quartiers an einer Wegbiegung überraschend in der Morgendämmerung vor uns. Er hatte keine Blätter, aber er war ein einziger weißer Blütenbusch.
    Abends war Detering nicht zu sehen. Er kam schließlich 246 an und hatte ein paar Zweige mit Kirschblüten in der Hand. Wir machten uns lustig und fragten, ob er auf Brautschau wolle. Er gab keine Antwort, sondern legte sich auf sein Bett. Nachts hörte ich ihn rumoren, er schien zu packen. Ich witterte Unheil und ging zu ihm. Er tat, als wäre nichts, und ich sagte ihm: »Mach keinen Unsinn, Detering.«
    »Ach wo – ich kann nur nicht schlafen.«
    »Weshalb hast du denn die Kirschzweige geholt?«
    »Ich werde doch wohl noch Kirschzweige holen dürfen«, antwortet er verstockt – und nach einer Weile: »Zu Hause habe ich einen großen Obstgarten mit Kirschen. Wenn die blühen, sieht das vom Heuboden aus wie ein einziges Bettlaken, so weiß. Es ist jetzt die Zeit.«
    »Vielleicht gibt’s bald Urlaub. Es kann auch sein, daß du, als Landwirt, abkommandiert wirst.«
    Er nickt, aber er ist abwesend. Wenn diese Bauern aufgerührt sind, haben sie einen sonderbaren Ausdruck, eine Mischung von Kuh und sehnsüchtigem Gott, halb blöde und halb hinreißend. Um ihn von seinen Gedanken abzubringen, verlange
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