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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Sicherheitsschleuse und löste dabei den Alarm aus. Die Wachposten grüßten ihn.
    »Isst du mit mir zu Mittag?«
    »Nein, tut mir leid. Ich hab schon was vor.«
    Der Richter tat, als wäre er enttäuscht, aber Jeanne machte sich nichts vor: Er wollte nur weiter über Osttimor reden.
    Sie passierte ihrerseits den Metalldetektor.
    »Wenn dich dieser Fall dermaßen reizt, warum versuchst du dann nicht, ihn dir zu angeln?«
    »Ich bin mit so vielen Akten im Rückstand, dass ich nicht einmal mehr die Tür zu meinem Büro aufmachen kann!«
    »Ich werde dir mein Brecheisen leihen.«
    »Du bist also dabei? Du wirst mir noch dankbar sein.«
    Er gab ihr einen Kuss, nahe am Mund. Diese Berührung ließ ihr Herz höher schlagen. Sie ging Richtung Tiefgarage, leicht wie Pollen in der Sonne. Sie fühlte sich schön, strahlend und unbesiegbar. Durch den flüchtigen Kontakt mit diesen männlichen Reizen hatte sich ihre Verzweiflung in Luft aufgelöst. Sie fragte sich, ob sie nicht manisch-depressiv wurde.
    Oder schlichtweg eine alte Jungfer.

 
    5
    »Ich weiß nicht, was gerade mit mir los ist. Ich könnte alles vögeln, was vorbeikommt.« »Entzückend.«
    Jeanne versuchte sich ihre Erschütterung nicht anmerken zu lassen. François Taine starrte der fortgehenden Bedienung auf den Hintern. Er wandte den Blick von dem kleinen Po ab und fixierte lächelnd seine Gesprächspartnerin. Dieses Lächeln brachte unmissverständlich zum Ausdruck, dass dieses globale Begehren durchaus Jeanne einschloss. Sie nahm es ihm nicht übel. Ihre Freundschaft hatte vor zehn Jahren auf der Nationalen Hochschule für das Richteramt in Bordeaux begonnen. Taine hatte damals sein Glück bei ihr versucht. Nach seiner Scheidung ein paar Jahre später hatte er es noch einmal probiert. Beide Male hatte Jeanne den Antrag zurückgewiesen.
    »Was nimmst du?«, fragte er.
    »Mal sehen.«
    Wie alle Pariserinnen tat auch Jeanne so, als würde sie seit der Pubertät essen. Sie überflog die Karte, traf ihre Wahl und sah sich dann um. Das Usine war ein angesagtes Restaurant in der Nähe der Place de l'Étoile. Mit gefirnisstem hellem Holz verkleidete Wände, lackierter Betonboden. Ein beruhigender Ort, ungeachtet des üblichen lauten Stimmengewirrs beim Mittagessen. Jeanne gefiel vor allem, dass das Restaurant zwei Gesichter hatte. Mittags verkehrten hier Geschäftsleute mit Krawatte, abends traf sich das Mode- und Kino-Völkchen. Diese Ambivalenz entsprach ihr.
    Ihr Blick kehrte zu Taine zurück, der mit hochgezogenen Brauen die Speisekarte studierte, als wäre es eine feurige Anklagerede. Taines Körper war so steif wie eine Teleskopantenne. Strohiges Haar. Markante Gesichtszüge. Das Aussehen eines ewigen Studenten, das eigentlich nicht zu einem erfahrenen Richter passte. François Taine, achtunddreißig Jahre alt, Ermittlungsrichter in Nanterre – sein Büro befand sich neben dem von Jeanne –, gehörte zu jenen, die Jacques Chirac nach dem Ende seiner Amtszeit vorgeladen hatten.
    Seit der Trennung von seiner Frau kleidete sich Taine mit aufdringlicher Eleganz – als Gegengewicht zu seinem jugendlichen Aussehen und seiner Steifheit. Maßanzüge von Ermenegildo Zegna. Stretchhemden von Prada. Schuhe von Martin Margiela. Jeanne hegte den Verdacht, dass er seine Klamotten in monatlichen Raten abstotterte. Wie auch seine Spielschulden.
    Auch versuchte er seinem streberhaften Aussehen durch eine bewusst vulgäre Sprache entgegenzuwirken. Er hielt das für chic. Die Methode hätte in Paris, dieser Hauptstadt der Ironie, funktionieren können, aber Taine strahlte auch eine gewisse Banalität aus, was unfreiwilligerweise sehr gut zu diesem Vokabular passte. Allen Anstrengungen zum Trotz konnte Taine sein wahres Naturell zumeist nicht verbergen: ein ungehobelter Bursche aus Amiens im Sonntagsstaat. Weder besonders chic noch besonders geistreich.
    Jeanne mochte ihn trotzdem. Hinter der aufgesetzten Würde, der zur Schau gestellten Eleganz und der Vulgarität verbarg sich ein schüchterner Mann, der dick auftrug, um sich durchzusetzen. Zwei Dinge verrieten diese Zerbrechlichkeit. Sein schwaches Lächeln, dem stets eine rasche Bewegung des Kinns vorausging – so wie ein Kieselstein über eine Wasserfläche hüpfte. Und sein vorstehender Adamsapfel, dessen Anblick wehtat, aber Jeanne gleichzeitig auch faszinierte.
    Nachdem sie bestellt hatten, beugte sich Taine zu ihr.
    »Kennst du Audrey, die Referendarin, die bei der Strafkammer arbeitet?«
    »Die Dicke?«
    »Nenn sie
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