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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition)
Autoren: Michael Theurillat
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ich wollte es Ihnen persönlich mitteilen.«
    »Erschossen … auf dem Golfplatz.« Dr. Bettlach sah Eschenbach mit seinen hellen Augen an. Dann schweifte sein Blick zum Fenster und hinaus und verlor sich irgendwo zwischen den gegenüberliegenden Hausdächern und Schornsteinen.
    Selbst die schmucken Geranien, die in Kästen aus grauem Schiefer an den schmiedeeisernen Gittern der Balkone hingen und in deren zinnoberroten Blüten das Sonnenlicht tanzte, hatten der Traurigkeit des Blicks nichts entgegenzusetzen.
    »Ja, so ist es«, sagte Eschenbach langsam.
    »Wissen Sie schon, wer es war?«
    »Nein. Die Ermittlungen laufen. Wir sind … wir wissen es noch nicht.«
    »Philipp war mein Bruder, mein jüngerer Bruder.« Dr. Bettlachs Blick, der für diesen Satz von den Dachgärten zurückkehrte, entfernte sich wieder. »Es ist so traurig, so unermesslich traurig alles«, sprach er weiter. Doch diesmal blieb sein Blick draußen, seine Gedanken weit weg, verloren in den Dachgärten zwischen Geranien, Efeu und Horizont, zwischen der heißen Mittagssonne im Juli und den dunklen Schatten der Trauer.
    »Wer könnte ein Interesse haben, Ihren Bruder umzubringen?« Eschenbach rutschte etwas nach vorne, als wolle er die Melancholie, die wie schwarzes Seegras den Raum überwucherte, von sich abschütteln.
    »Ich weiß es nicht, Herr Kommissar. Ich weiß es nicht.« Eschenbach lockerte seinen Hemdkragen, öffnete den obersten Knopf und atmete tief ein. Hatte er zugenommen? Seine Stimme war heiser. Er räusperte sich. »Erzählen Sie doch einfach. Wer war Ihr Bruder? Wie war er? Seine Freunde, seine Frau, Familie, Liebschaften. Alles.«
    Dr. Bettlach bemerkte Eschenbachs Versuch, die Geister der Schwermut zu verscheuchen und begann, langsam, zuerst stockend, dann immer fließender über seinen Bruder zu sprechen.
    Eschenbach unterbrach ihn nur kurz und fragte, ob er sein Diktiergerät benutzen dürfe, was Bettlach durch ein geistesabwesendes Nicken beantwortete. Der Kommissar legte das Gerät auf den Tisch, um sicherzugehen, dass sein Gegenüber es sah.
    Während Dr. Bettlach über seinen Bruder sprach, sein Wesen, seine Eigenarten schilderte, wechselte er zuerst nur vereinzelt, dann immer öfter von der traurigen Vergangenheitsform in ein heiteres Präsens. Aus dem »war« wurde ein »ist«; aus dem »hatte« ein »hat«, aus dem »konnte« ein »kann« – und schlussendlich wurde aus dem Toten wieder ein Lebender.
    Bettlach sprach beherrscht, in ruhigem, besonnenem Ton. Jedes Wort schien er sorgsam zu wählen, jede Pause saß. Als seine Sekretärin hereinkam, ihm zwei Notizen hinlegte und andeutete, er müsse zurückrufen, schien ihn das nicht im Geringsten zu interessieren. Und als etwas später Espresso und Amaretti serviert wurden, bemerkte er es kaum.
    Eschenbach, der zuvor schon einmal die Seite der Kassette im Diktaphon gewechselt hatte, wollte eine neue einlegen. Als er merkte, dass er keine zweite mitgenommen hatte, stellte er das Gerät ab.
    »Philipp war aufgeweckt, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und ein sonniges Gemüt. Wenn er lachte, dann lag ihm die ganze Welt zu Füßen.« Bettlach trank einen Schluck Kaffee, rührte in seiner Mokkatasse und schwieg eine Weile. »Es ist schwierig, wenn Sie sechzehn Jahre älter sind«, fuhr er fort. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich ihn als Baby im Arm gehalten habe. Ein Geschöpf aus einer anderen Welt.« Er lächelte. »Für ihn war der Altersunterschied vermutlich noch schwieriger als für mich; jedenfalls hat er mich damals angeschrien, als wolle er sich partout nicht damit abfinden, dass ich sein älterer Bruder bin.«
    Eschenbach schwieg erwartungsvoll.
    »Als er klein war, ging das alles noch – aber als er größer wurde und merkte, dass ich vor ihm da war und alles, was er wollte, schon getan hatte, da stemmte er sich eine Zeit lang gegen Mutter und mich. Er brach mit sämtlichen Konventionen; war nächtelang weg – kein Mensch ahnte, wo er sich gerade herumtrieb. Und wenn gegen vier Uhr morgens das Telefon ging, dann wussten wir: Man hatte ihn irgendwo aufgegriffen, weil er betrunken gewesen war, Drogen genommen oder gestohlen hatte. Die Polizeiwachen kannten ihn mit der Zeit, und es war klar, wer ihn holte und für die Schäden aufkam, die er angerichtet hatte.« Johannes Bettlach hielt inne und biss in ein Amaretti, das er sich vom Teller genommen hatte. Kauend erzählte er weiter: »Philipp hatte eine schwierige Zeit damals … und Adele, seine Mutter,
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