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Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Titel: Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
Autoren: Byung-Chul Han
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vereinzelten Individuen. Die Masse ist völlig anders strukturiert. Sie offenbart Eigenschaften, die auf die Einzelnen nicht zurückzuführen sind. Die Einzelnen verschmelzen zu einer neuen Einheit, in der sie kein eigenes Profil mehr haben. Eine zufällige Ansammlung von Menschen bildet noch keine Masse. Erst eine Seele oder ein Geist verschweißt sie zu einer in sich geschlossenen, homogenen Masse. Dem digitalen Schwärm fehlt die Massenseele oder der Massengeist ganz. Die Individuen, die sich zu einem Schwärm zusammenfügen, entwickeln kein Wir. Ihn zeichnet kein Einklang aus, der die Menge zu einer Handlungsmasse zusammenschweißt. Der digitale Schwärm ist im Gegensatz zur Masse nicht in sich kohärent. Er äußert sich nicht als eine Stimme. Auch dem Shitstorm fehlt die eine Stimme. Daher wird er als Lärm wahrgenommen.
     
    Für McLuhan ist der bomo electronicus ein Massenmensch: »Der Massenmensch ist der elektronische Bewohner des Erdballs und gleichzeitig mit allen anderen Menschen verbunden, als wäre er ein Zuschauer in einem globalen Sportstadion. So wie der Zuschauer im Sportstadion ein Niemand ist, so ist der elektronische Bürger ein Mensch, dessen private Identität durch übermäßige Beanspruchung psychisch ausgelöscht worden ist.« 8 Der bomo digitalis ist alles andere als »Niemand«. Er behält seine private Identität, selbst wenn er als Teil des Schwarms auftritt. Er äußert sich zwar anonym, aber in der Regel hat er ein Profil und arbeitet unaufhörlich an seiner Optimierung. Statt »Niemand« zu sein, ist er penetrant Jemand, der sich ausstellt und um Aufmerksamkeit buhlt. Der massenmediale Niemand dagegen beansprucht für sich selbst keine Aufmerksamkeit. Seine private Identität ist ausgelöscht. Er geht in der Masse auf. Darin besteht auch sein Glück. Er kann ja nicht anonym sein, weil er ein Niemand ist. Der bomo digitalis dagegen tritt zwar oft anonym auf, aber er ist kein Niemand, sonder ein Jemand, nämlich ein anonymer Jemand.
     
    Die Welt des bomo digitalis weist zudem eine ganz andere Topologie auf. Ihr sind Räumlichkeiten wie Sportstadien oder Amphitheater, das heißt, Orte der Massenversammlung fremd. Sie gehören zur Topologie der Massen. Die digitalen Bewohner des Netzes versammeln sich nicht. Ihnen fehlt die Innerlichkeit der Versammlung, die ein Wir hervorbringen würde. Sie bilden eine besondere Ansammlung ohne Versammlung, eine Menge ohne Innerlichkeit, ohne Seele oder Geist. Sie sind vor allem für sich isolierte, vereinzelte Hikikomori, die alleine vor dem Display sitzen. Elektronische Medien wie das Radio versammeln Menschen, während die digitalen Medien sie vereinzeln.
    Die digitalen Individuen formieren sich gelegentlich zu Ansammlungen wie etwa zu Smart Mobs. Ihre kollektiven Bewegungsmuster sind aber wie bei den von Tieren gebildeten Schwärmen sehr flüchtig und instabil. Die Volatilität zeichnet sie aus. Außerdem wirken sie oft karnevalesk, spielerisch und unverbindlich. Darin unterscheidet sich der digitale Schwärm von der klassischen Masse, die wie etwa die Arbeitermasse nicht volatil, sondern voluntativ ist und keine flüchtigen Muster, sondern feste Formationen bildet. Mit einer Seele, durch eine Ideologie vereint, marschiert sie in einer Richtung. Aufgrund voluntativer Entschlossenheit und Festigkeit ist sie auch fähig zum Wir, zur gemeinsamen Handlung, die das bestehende Herrschaftsverhältnis frontal anzugreifen vermag. Erst die zu einer gemeinsamen Handlung entschlossene Masse generiert die Macht. Masse ist Macht. Den digitalen Schwärmen fehlt diese Entschlossenheit. Sie marschieren nicht. Sie lösen sich ebenso schnell auf wie sie entstanden sind. Aufgrund dieser Flüchtigkeit entwickeln sie keine politischen Energien. Shitstorms sind ebenfalls nicht imstande, das herrschende Machtverhältnis infrage zu stellen. Sie stürzen sich nur auf einzelne Personen, indem sie sie bloßstellen oder skandalisieren.
    Michael Hardt und Antonio Negri zufolge entwickelt die Globalisierung zwei entgegengesetzte Kräfte. Zum einen errichtet sie eine dezentrierte, deterritorialisierte kapitalistische Herrschaftsordnung, nämlich das »Empire«. Zum anderen bringt sie die sogenannte »Multitude« hervor, eine Zusammensetzung aus Singularitäten, die über das Netzwerk miteinander kommunizieren und gemeinsam handeln. Sie opponiert innerhalb des Empire gegen das Empire.
     
    Hardt und Negri konstruieren ihr Theoriemodell auf der Grundlage historisch überholter
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