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Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Titel: Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
Autoren: Byung-Chul Han
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unbeständig, ephemer und amorph. Sie schwellen plötzlich an und zerstreuen sich ebenso schnell. Darin ähneln sie den Smart Mobs. Ihnen fehlen die Stabilität, die Konstanz und die Kontinuität, die unverzichtbar wären für den öffentlichen Diskurs. So lassen sie sich nicht in einen stabilen Diskurszusammenhang integrieren. Die Empörungswellen entstehen oft angesichts jener Ereignisse, die eine sehr geringe gesellschaftliche oder politische Relevanz besitzen.
     
    Die Empörungsgesellschaft ist eine Skandalgesellschaft. Sie ist ohne Contenance, ohne Haltung. Die Aufsässigkeit, die Hysterie und die Widerspenstigkeit, die charakteristisch sind für die Empörungswellen, lassen keine diskrete, sachliche Kommunikation, keinen Dialog, keinen Diskurs zu. Die Haltung ist aber konstitutiv für die Öffentlichkeit. Die Distanz ist aber notwendig für die Bildung von Öffentlichkeit. Die Empörungswellen weisen außerdem eine geringe Identifikation mit der Gemeinschaft auf. So bilden sie kein stabiles Wir, das eine gesamtgesellschaftliche Sorgestruktur aufwiese. Auch die Sorge der sogenannten Wutbürger ist keine gesamtgesellschaftliche, sondern weitgehend eine Sorge um sich. Daher zerstreut sie sich schnell wieder.
     
    Das erste Wort der Ilias heißt menin, nämlich der Zorn. »Singe, Göttin, den Zorn des Peleussohnes Achilleus«, so beginnt die erste Narration der abendländischen Kultur. Der Zorn ist hier singbar,   weil er das Narrativ der llias trägt, strukturiert, beseelt, belebt und rhythmisiert. Er ist das heroische Handlungsmedium schlechthin. Die llias ist ein Gesang des Zorns. Dieser Zorn ist narrativ, episch, weil er bestimmte Handlungen hervorbringt. Darin unterscheidet sich der Zorn grundsätzlich vom Arger als Affekt der Empörungswellen. Die digitale Empörung ist nicht singbar. Sie ist weder zur Handlung noch zur Narration fähig. Sie ist vielmehr ein affektiver Zustand, der keine handlungsmächtige Kraft entfaltet. Die allgemeine Zerstreuung, die die Gesellschaft von heute kennzeichnet, lässt die epische Energie des Zorns nicht aufkommen. Die Wut im emphatischen Sinne ist mehr als ein affektiver Zustand. Sie ist ein Vermögen, einen bestehenden Zustand zu unterbrechen und einen neuen Zustand beginnen zu lassen. So stellt sie die Zukunft her. Die heutige Empörungsmasse ist äußerst flüchtig und zerstreut. Ihr fehlt jede Masse, jede Gravitation, die notwendig ist für Handlungen. Sie generiert keine Zukunft.
     

IM SCHWARM
    In Psychologie der Massen (1895) definiert der Massenpsychologe Gustave Le Bon die Moderne als das »Zeitalter der Massen«. Es bilde einen jener kritischen Zeitpunkte, in denen das menschliche Denken im Begriff sei, sich zu wandeln. Die Gegenwart sei eine »Periode des Überganges und der Anarchie«. Die künftige Gesellschaft werde bei ihrer Organisation mit einer neuen Macht, nämlich mit der Macht der Massen zu rechnen haben. So stellt er lakonisch fest: »Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein.« 5
     
    Le Bon sieht die tradierte Herrschaftsordnung zerfallen. Nun habe die »Stimme des Volkes« das Übergewicht erlangt. Die Massen gründeten »Syndikate, denen sich alle Machthaber unterwerfen, Arbeitsbörsen, die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen«. 6 Die Repräsentanten im Parlament seien nur ihre Handlanger. Le Bon erscheint die Masse als ein Phänomen des neuen Herrschaftsverhältnisses. Das »göttliche Recht der Massen« werde das der Könige ersetzen. Für Le Bon führt der Aufstand der Massen sowohl zur Krise der Souveränität als auch zum Verfall der Kultur. Die Massen seien, so Le Bon, »Zerstörerinnen der Kultur«. Eine Kultur beruhe auf »Bedingungen, für welche die sich selbst überlassenen Massen völlig unzugänglich« seien. 7
     
    Offenbar befinden wir uns heute wieder in einer Krise, in einem kritischen Übergang, für den eine andere Umwälzung, nämlich die digitale Revolution, verantwortlich zu sein scheint. Erneut bedrängt eine Formation der Vielen das vorhandene Macht- und Herrschaftsverhältnis. Die neue Menge heißt der digitale Schwärm. Sie weist Eigenschaften auf, die sie von der klassischen Formation der Vielen, nämlich von der Masse, radikal unterscheidet.
     
    Der digitale Schwärm ist schon deshalb keine Masse, weil ihm keine Seele, kein Geist innewohnt. Die Seele ist versammelnd und vereinigend. Der digitale Schwärm besteht aus
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