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Im Schatten der Vergeltung

Im Schatten der Vergeltung

Titel: Im Schatten der Vergeltung
Autoren: Rebecca Michéle
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nicht übel Lust gehabt, Lady Esther zu sagen, dass sie entgegen ihrer Aussage lebte und handelte, aber wie meistens hatte sie dieser Versuchung widerstanden. Maureen wusste, wann es besser war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, auch wenn sie Lady Esthers Einstellung nicht teilte und niemals teilen würde.
    Die anderen hatten sich eifrig nickend Lady Esthers Äußerung angeschlossen, und sogleich war ein anderes und unverfängliches Thema angeschnitten worden.
    Unter diesen Bedingungen blieb Maureen nichts anderes übrig, als in der Zurückgezogenheit ihres Zimmers Bücher und Zeitungen zu studieren, die in den Augen der Gesellschaft den Männern vorbehalten waren.
    A m Tag des Gartenfestes auf Linnley Park zeigte sich tatsächlich keine einzige Wolke am blauen Himmel. Das Meer lag ruhig in der Bucht, die Trenance Cove den Namen gegeben hatte, und die Luft war mild, aber nicht zu warm. Heute würde man angenehm unter freiem Himmel essen und trinken können.
    Philipp wartete ungeduldig neben dem offenen Kutschenschlag. Soeben war Frederica zum zweiten Mal ins Haus zurückgelaufen, weil sie etwas vergessen hatte.
    »Wie eine aufgescheuchte Hummel.« Maureen sah lächelnd ihrer Tochter nach. »Ich sehe nach, was sie jetzt noch braucht.« Maureen freute sich auf den Tag, ihre trüben Gedanken waren verflogen. Bei einem solch herrlichen Wetter musste man einfach guter Stimmung sein. Am Fuß der Treppe kam ihr Frederica auch schon wieder entgegen. Ihre Augen strahlten in erwartungsvoller Vorfreude, ihre runden, aber nicht zu dicken Wangen leuchteten rosig.
    »Ich hatte meinen Sonnenschirm vergessen«, rief sie und schwenkte ihr Sonnenschirmchen so hektisch, dass sie Maureen beinahe den Hut vom Kopf gestoßen hätte. Diese nahm es mit Humor und wich geschickt zu Seite, dann musterte sie Frederica jedoch kritisch.
    »Und dein Schultertuch ebenfalls.«
    »Wie?«
    »Du hast kein Schultertuch um, Frederica.« Maureen versuchte, streng zu klingen, obwohl sie Mühe hatte, ein nachsichtiges Lächeln zu unterdrücken. Sie konnte Frederica in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit einfach nicht ernsthaft böse sein. »Dein Kleid ist zu weit ausgeschnitten, um es ohne Tuch zu tragen.«
    »Aber Mama, für ein Tuch ist es doch viel zu warm.«
    Maureen blieb jedoch unnachgiebig.
    »Entweder ziehst du ein Kleid an, das dein Dekolleté in schicklicher Weise bedeckt, oder du holst jetzt sofort ein Tuch! Und beeil dich, dein Vater ist kurz davor, die Geduld zu verlieren, wir dürfen nicht zu spät kommen.«
    Fredericas Stirn runzelte sich unwillig, sie murmelte etwas, das Maureen nicht verstehen konnte, ging aber wieder die Treppe in ihr Zimmer hinauf. Sie wusste, dass sie dem Wunsch ihrer Mutter folgen musste, auch wenn durch ein Schultertuch die Wirkung ihres blauen Kleides, das genau die Farbe ihrer Augen widerspiegelte, gründlich verdorben werden würde. Dabei wollte, nein, musste sie heute so verführerisch aussehen, dass George Linnley gar nicht anders konnte, als den ganzen Tag an ihrer Seite zu sein. Nun, sie würde sich das dumme Tuch zunächst einmal umlegen. Die Eltern beobachteten sie gewiss nicht andauernd, und es würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, ihre wohlgeformte Figur George Linnley in all ihrer Schönheit zu präsentieren.
    Ungeduldig schritt Maureen in der Eingangshalle auf und ab. Philipp missfiel Unpünktlichkeit. Selbst seiner geliebten Tochter gegenüber zeigte er sich in diesem Punkt wenig nachsichtig und sagte ihr unablässig, dass Pünktlichkeit zu den wichtigsten Tugenden gehörte, denn damit zollte man dem Wartenden Respekt. Leider waren seine Bemühungen von wenig Erfolg gekrönt. Frederica träumte und lebte gern in den Tag hinein und vergaß darüber oft ihre Pflichten.
    Lautlos betrat Jenkins die Halle und sprach Maureen an: »Der Reiter brachte soeben die Post, Mylady. Soll ich die Briefe nach draußen zu Mylord bringen?«
    »Nein, Jenkins, mein Mann hat jetzt keine Zeit, sich mit geschäftlichen Angelegenheiten zu befassen. Er wird die Post heute Abend durchsehen.«
    Jenkins verbeugte sich und legte die Post auf eine zierliche Kommode unter einem Spiegel.
    »Frederica! Kommst du endlich?«, rief Maureen nach oben, ohne eine Antwort zu erhalten. Im Spiegel erhaschte sie einen Blick auf ihre Gestalt und lächelte ihrem Spiegelbild zu. Sie zupfte ein paar Locken zurecht, die unter dem cremefarbenen Hut hervorlugten. Die grünen Bänder passten perfekt zu ihren Augen. Nein, wie dreiunddreißig sehe
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