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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit
Autoren: Anne Perry
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zu entdecken, nirgendwo war etwas abgeschabt oder angekratzt, kein Hinweis darauf, daß jemand darübergeklettert war. Keine geknickten Pflanzen in der Rabatte davor, obwohl es dazwischen Stellen gab, an denen man auf die Erde hätte treten können. Jetzt noch nach Fußspuren zu suchen hatte keinen Sinn; das Verbrechen war vor zehn Tagen passiert, und es hatte seither mehrmals geregnet; dazu kam, daß der Gärtner womöglich mit dem Rechen Ordnung geschafft hatte.
    Er hörte das leise Rascheln ihrer Röcke über dem Gras, und als er sich umwandte, stand sie direkt hinter ihm.
    »Was machen Sie?« fragte sie mit ängstlich gespannter Miene.
    »Ich suche nach Spuren, die darauf hinweisen könnten, daß jemand über die Mauer geklettert ist«, antwortete er.
    »Oh.« Sie atmete ein, als wollte sie noch etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders.
    Er fragte sich, was sie wohl hatte sagen wollen und welcher Gedanke sie davon abgebracht hatte. Er hatte ein häßliches Gefühl dabei, und dennoch konnte er nicht umhin, sich zu fragen, ob sie ihren Angreifer nicht vielleicht doch gekannt hatte – oder ob es sich vielleicht nicht um eine Nötigung, sondern um eine Verführung gehandelt hatte. Er konnte gut verstehen, daß eine junge Frau, die man in den Augen der anderen mit ihrer Tugend auch ihres größten Kapitals beraubt und damit für den Heiratsmarkt ruiniert hatte, auf den Gedanken kommen konnte, lieber einen Überfall vorzutäuschen, als ein freiwilliges Nachgeben einzugestehen – wie groß auch immer die Versuchung gewesen sein mochte. Nicht daß es akzeptabler gewesen wäre, das Opfer einer Vergewaltigung zu sein! Das mochte bestenfalls für ihre Familie eine Rolle spielen. Letztere würde alles tun, um es vor dem Rest der Welt zu verbergen.
    Er ging hinüber zu der Mauer am Ende des Gartens, die die Grenze zum benachbarten Grundstück bildete. Hier waren die Steine an der einen oder anderen Stelle brüchig, und ein beweglicher Mann hätte hier durchaus darüberklettern können, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. Sie war ihm nachgegangen und las seine Gedanken. Sie sah ihn dabei mit großen dunklen Augen an, sagte jedoch nichts. Schweigend nahm er die dritte Mauer in Augenschein, die, die den Garten nach Westen hin schützte. Das Resultat war das gleiche.
    »Er muß über die Mauer am Ende gekommen sein«, sagte sie leise und senkte den Blick auf das Gras. »Durch den Kräutergarten kann niemand gekommen sein, da sich dort Rodwell aufgehalten haben muß. Und die Tür vom Garten auf der anderen Seite ist verschlossen.« Sie meinte damit die gepflasterte Ecke an der Ostseite, wo man den Unrat abstellte und wo sich neben der Kohlenrutsche in den Keller auch der Dienstboteneingang zu Spülküche und Küche befand.
    »Hat er Ihnen weh getan, Miss Gillespie?« Er stellte seine Frage so respektvoll wie möglich, aber selbst so hörte sie sich noch aufdringlich und mißtrauisch an.
    Sie wich seinem Blick aus, das Blut schoß ihr in die Wangen und rötete sie. »Es war furchtbar schmerzhaft«, sagte sie kaum hörbar. »Wirklich furchtbar schmerzhaft.« Ihrer Stimme war ihre unverhohlene Überraschung anzuhören, als wäre sie über die Maßen erstaunt.
    Er schluckte. »Ich meine damit, ob er Sie verletzt hat, an den Armen, am Oberkörper? Hat er Sie mit Gewalt festgehalten?«
    »Oh – ja. Ich habe blaue Flecken an Handgelenken und Armen, aber sie werden schon blasser.« Vorsichtig schob sie die langen Ärmel nach oben, um ihm die häßlichen gelbgrauen Quetschungen auf der blassen Haut zu zeigen. Diesmal sah sie zu ihm auf.
    »Tut mir leid.« Es war keine Entschuldigung, sondern ein Ausdruck des Mitgefühls für ihren Schmerz.
    Plötzlich lächelte sie ihn an; er erhaschte einen Blick von der Person, die sie gewesen war, bevor sie dieser Vorfall ihres Selbstvertrauens, ihrer Freude und ihres Seelenfriedens beraubt hatte. Mit einemmal überkam ihn eine grenzenlose Wut auf denjenigen, der ihr das angetan hatte, ob es sich nun um eine Verführung gehandelt haben mochte oder um eine Vergewaltigung.
    »Ich danke Ihnen«, sagte sie und straffte ihre Schultern.
    »Gibt es sonst noch was hier draußen, was Sie gern sehen würden?«
    »Nein, danke.«
    »Was wollen Sie als nächstes tun?« fragte sie neugierig.
    »In dieser Angelegenheit? Mit Ihrem Gärtner sprechen, und dann mit den Dienstboten Ihrer Nachbarn, um zu erfahren, ob ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist – vielleicht jemand, den sie noch nie in der
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