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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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vollkommen abgeschnitten von allen anderen, dass das Leben nicht mehr zu ertragen wäre. Es gibt hier welche, denen das gelingt, die die Kraft aufbringen, sich in Ungeheuer zu verwandeln, aber du würdest staunen, wie wenige das sind. Oder, anders ausgedrückt: Wir alle sind zu Ungeheuern geworden, doch gibt es so gut wie niemanden, in dem nicht noch etwas von dem Leben, wie es früher war, übriggeblieben wäre.
    Dies ist vielleicht das größte Problem von allen. Das Leben, so wie wir es kennen, hat aufgehört, und doch ist niemand in der Lage zu begreifen, was an seine Stelle getreten ist. Diejenigen von uns, die woanders aufgewachsen oder alt genug sind, sich an eine andere Welt als diese hier zu erinnern, kostet es enorme Mühe, nur von einem Tag zum nächsten durchzuhalten. Ich rede nicht nur von den Entbehrungen. Schon auf die banalsten Ereignisse weiß man nicht mehr zu reagieren, und diese Handlungsunfähigkeit lähmt schließlich auch die Gedanken. Das Gehirn ist durcheinandergeraten. Um dich her ist alles in ständiger Veränderung, jeder Tag beschert eine neue Umwälzung, das Althergebrachte ist eitel und leer. Man steckt in einem Dilemma. Einerseits will man überleben, sich anpassen, aus dem Gegebenen das Beste machen. Andererseits muss man, um das zu erreichen, offenbar all das abtöten, was einem früher das Gefühl vermittelt hat, ein Mensch zu sein. Verstehst du, was ich damit sagen will? Um leben zu können, muss man sich absterben lassen. Darum geben so viele Leute auf. Denn so sehr sie sich auch bemühen, sie wissen, ihr Untergang steht schon fest. Und von da an ist es freilich sinnlos, sich überhaupt noch abzumühen.

In meinem Kopf verschwimmt das immer mehr: was geschah und was nicht, der erste Anblick der Straßen, die Tage, die Nächte, der Himmel über mir, die Steinhalden darunter. Ich glaube mich zu erinnern, viel nach oben geblickt zu haben, als hätte ich den Himmel nach etwas Fehlendem abgesucht, nach etwas Überschüssigem, nach etwas, das ihn von anderen Himmeln unterschied, als hätte der Himmel eine Erklärung für das bieten können, was ich rings um mich sah. Womöglich vertue ich mich da aber. Vielleicht übertrage ich die Beobachtungen einer späteren Zeit auf diese ersten Tage. Obwohl ich bezweifle, dass das viel zu sagen hat, am allerwenigsten jetzt.
    Nach eingehender Betrachtung kann ich unbesorgt versichern, dass der hiesige Himmel derselbe ist wie der über dir. Wir haben dieselben Wolken und dieselben heiteren Perioden, dieselben Stürme und dieselbe Windstille, dieselben Böen, die alles mit sich fortwehen. Wenn die Wirkungen hier ein wenig anders sind, liegt das zweifellos an dem, was sich darunter abspielt. Die Nächte zum Beispiel sind nie ganz so wie die zu Hause. Zwar gibt es dieselbe Dunkelheit und Unermesslichkeit, doch ohne jenes Gefühl der Stille, nur einen fortwährenden Sog, ein Murmeln, das einen ununterbrochen niederzieht und vorwärtstreibt. Und tagsüber herrscht eine Helligkeit, die manchmal unerträglich ist – ein greller Glanz, der einen benommen macht und alles auszubleichen scheint, der all die zerklüfteten Oberflächen ergleißen und die Luft schier flimmern lässt. Das Licht ist so geartet, dass die Farben sich immer stärker verschieben, je mehr man sich ihnen nähert. Selbst die Schatten sind in heftiger Bewegung und vibrieren hektisch an den Rändern. Bei diesem Licht muss man aufpassen, dass man die Augen nicht zu weit aufmacht, darf man gerade nur so viel blinzeln, dass man nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Denn sonst stolpert man, und die Gefahren eines Sturzes brauche ich nicht aufzuzählen. Manchmal denke ich, wenn es die Dunkelheit nicht gäbe und die seltsamen Nächte, die sich über uns senken, würde der Himmel ausbrennen. Die Tage enden zwangsläufig genau dann, wenn die Sonne die von ihr beschienenen Dinge ausgelaugt zu haben scheint. Nichts wäre der Helligkeit mehr gewachsen. Die ganze unglaubhafte Welt schmölze weg, und damit hätte es sich.
    Die Stadt scheint sich langsam und stetig selbst zu verzehren, obwohl sie fortbesteht. Wie soll ich das erklären? Ich kann es nur berichten, nicht aber so tun, als verstünde ich es. Täglich hört man auf den Straßen Explosionen, als krachte irgendwo weit weg ein Gebäude zusammen oder der Bürgersteig bräche ein. Aber man sieht nie etwas davon. Sooft man solche Geräusche auch hören mag, ihre Quelle bleibt immer unsichtbar. Man sollte doch meinen, dass man ab und zu Zeuge einer
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