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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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solchen Explosion werden müsste. Aber die Tatsachen sprechen allen Wahrscheinlichkeiten Hohn. Glaube bloß nicht, dass ich das erfinde – diese Geräusche geschehen nicht in meinem Kopf. Die anderen hören sie auch, obwohl sie nicht sonderlich darauf achten. Manchmal halten sie inne, um eine Bemerkung darüber zu machen, aber ohne je beunruhigt zu wirken. Heute ist es etwas besser, sagen sie dann etwa. Oder, heute Nachmittag klingt es aber ziemlich aggressiv. Anfangs habe ich wegen dieser Explosionen viele Fragen gestellt, doch nie eine Antwort erhalten. Höchstens einen stummen Blick oder ein Achselzucken. Schließlich sah ich ein, dass man nach manchen Dingen einfach nicht fragt, dass es selbst hier Themen gibt, über die niemand zu sprechen bereit ist.

Für die ganz unten gibt es die Straßen, die Parks und die alten U-Bahn-Stationen. Die Straßen sind am schlimmsten, denn hier ist man allen Gefahren und Unbilden ausgeliefert. Die Parks, ohne das Problem des Verkehrs und der ständigen Passanten, bieten schon etwas mehr Sicherheit, aber wer nicht zu den Glücklichen zählt, die ein Zelt oder eine Hütte haben, ist wehrlos dem Wetter preisgegeben. Nur die U-Bahnhöfe bieten Schutz vor solchen Widrigkeiten, aber dort erwarten einen eine Menge anderer Scherereien, mit denen man fertig werden muss: die Feuchtigkeit, die Menschenmassen und das ewige Gelärme von Leuten, die wie hypnotisiert vom Echo ihrer Stimme unablässig herumschreien.
    Was ich in jenen ersten Wochen mehr als alles andere fürchten lernte, war der Regen. Verglichen damit ist selbst die Kälte eine Lappalie. Hiergegen ist ja bloß ein warmer Mantel nötig (den ich besaß) und viel Bewegung, um das Blut in Schwung zu halten. Und ich erfuhr, wie hilfreich Zeitungen sein können, mit Abstand das beste und billigste Material, um die Kleider zu isolieren. An kalten Tagen muss man morgens sehr früh aufstehen, wenn man noch einen guten Platz in den Schlangen vor den Zeitungsständen erwischen will. Dabei sollte man die Wartezeit mit allem Bedacht abschätzen, denn es gibt nichts Schlimmeres, als zu lange draußen in der kalten Morgenluft zu stehen. Glaubt man, mehr als zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten anstehen zu müssen, gibt jeder einsichtige Mensch die Sache auf und geht wieder.
    Hat man eine Zeitung erworben, vorausgesetzt, es war noch eine zu haben, reißt man am besten ein Blatt in Streifen und dreht diese zu kleinen Röllchen zusammen. Damit lassen sich hervorragend die Schuhspitzen ausfüttern, die zugigen Zwischenräume um die Knöchel zustopfen und Löcher in der Kleidung dichtmachen. Gliedmaßen und Oberkörper schützt man am besten, indem man ganze Blätter um eine Anzahl locker befestigter Röllchen herumwickelt. Für den Halsbereich flicht man etwa ein Dutzend Röllchen zu einem Kragen zusammen. Das Ganze gibt einem ein aufgequollenes, gepolstertes Aussehen und bietet so den kosmetischen Vorteil, dass es die Abmagerung kaschiert. Für diejenigen, die Wert darauf legen, den Schein zu wahren, ist die sogenannte «Papiermahlzeit» ein geeignetes Mittel, sich den gewünschten Anstrich zu geben. Die Leute hungern buchstäblich zu Tode, laufen mit eingesunkenem Leib und stockdürren Gliedern umher und versuchen dabei auszusehen, als wögen sie zwei- oder dreihundert Pfund. Niemand lässt sich von diesem Mummenschanz täuschen – man erkennt diese Leute aus einer halben Meile Entfernung –, aber darum geht es vielleicht auch gar nicht. Was sie anscheinend damit sagen wollen ist, dass sie wissen, wie es um sie steht, und sich dessen schämen. Mehr als alles andere sind ihre aufgeplusterten Körper ein Zeichen von Bewusstheit, ein Merkmal bitterer Selbsterkenntnis. Sie machen sich zu grotesken Karikaturen der Reichen und Wohlgenährten und beweisen mit diesem verzweifelten, halb wahnsinnigen Versuch, Ehrbarkeit zu demonstrieren, dass sie genau das Gegenteil dessen sind, als was sie sich ausgeben – und dass sie es wissen.
    Der Regen jedoch ist unbesiegbar. Denn wird man einmal nass, hat man stundenlang, ja tagelang dafür zu zahlen. Einen größeren Fehler, als sich von einem Wolkenbruch überraschen zu lassen, kann man gar nicht begehen. Man läuft nicht nur Gefahr, sich eine Erkältung zu holen, sondern nimmt damit auch unzählige andere Unannehmlichkeiten auf sich: durch und durch feuchte Kleider, halberfrorene Knochen und die allgegenwärtige Gefahr, sich die Schuhe zu ruinieren. Wenn die wichtigste Aufgabe die ist, auf den Beinen zu
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