Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
einen
    mächtigen, buschigen Schnurrbart, der in grotesker Weise viel zu groß für seine Figur war und eher zu einem Filmkomiker
    gepaßt hätte. Sechs hochgewachsene indische Wärter bewachten ihn und bereiteten ihn für den Galgen vor. Zwei standen mit Gewehren und aufgepflanztem Bajonett in Bereitschaft,
    während die ändern ihm Handschellen anlegten. Durch die
    Handschellen zogen sie eine Kette, die sie an ihre Gürtel anschlössen, dann schnürten sie ihm die Arme eng an den Leib.
    Sie standen dicht um ihn herum und machten sich die ganze Zeit vorsichtig und besorgt an seinem Körper zu schaffen, als
    wollten sie sich vergewissern, daß er noch da sei - wie man einen lebenden Fisch festhält, der einem jeden Augenblick
    entschlüpfen und ins Wasser zurückgleiten könnte. Dabei
    verhielt sich der Gefangene vollkommen ruhig, ohne den
    geringsten Widerstand, und überließ seine Arme den Stricken, als bemerke er kaum, was vor sich ging - Es schlug acht Uhr.
    Ein Trompetensignal, dünn und trostlos verloren in der
    regenschweren Luft, tönte von den fernen Baracken herüber. Bei
    -14-

    diesem Signal hob der Gefängnisdirektor, der abseits von uns ändern stand und nachdenklich mit seinem Stock auf dem Boden herumstocherte, den Kopf. Er war Militärarzt, ein Mann mit einem grauen Zahnbürsten-Schnurrbart und einer rauhen
    Stimme.
    »Um Gottes willen, beeil dich, Francis«, sagte er gereizt. »Der Mann sollte in diesem Augenblick schon tot sein. Bist du noch nicht bereit?«
    Francis, der Oberaufseher, ein dicker Drawidiah, der in einer weißen Drillichuniform steckte und eine goldene Brille trug, winkte mit seiner schwarzen Hand.
    »Aber ja, Sir, aber ja, Sir!« blubberte er. »Iss alles schon gutt vorbereitet. Der Henker iss schon da. Kann lossgehen.«
    »Schön. Dann aber Eilschritt! Das Frühstück kann erst
    ausgegeben werden, wenn das hier erledigt ist.«
    Wir setzten uns in Marsch in Richtung Galgen. Rechts und
    links neben dem Gefangenen gingen die zwei bewaffneten
    Wärter, das Gewehr umgehängt; zwei andere hielten ihn an
    Armen und Schultern gepackt, wie um ihn vorwärts zu stoßen und zugleich zu stützen. Der Rest von uns, Gerichtsbeamte und dergleichen, bildeten den Schluß. Nach etwa zehn Yards geriet der Zug plötzlich ins Stocken, ohne einen Befehl oder eine Warnung. Etwas Schreckliches war geschehen. Ein Hund war,
    Gott weiß woher, im Hof aufgetaucht und nach ein paar Sätzen mitten unter uns. Dabei stieß er ein lautes Gebell aus, offenbar aus Freude, soviel Menschen auf einmal beisammen zu sehen.
    Es war ein großer, zottiger Hund, halb Airedale, halb Paria. Ein paar Augenblicke tanzte er, immer bellend, um uns herum, und dann war er, ohne daß es jemand hindern konnte, bei dem
    Gefangenen, sprang an ihm hoch und versuchte, ihm das Gesicht zu lecken. Wir standen wie versteinert, zu verblüfft, um auch nur den Versuch zu machen, ihn zu ergreifen.
    »Wer hat dies verdammte Vieh hier hereingelassen?« fragte
    -15-

    der Direktor erbost. »So fangt ihn doch!«
    Einer der Wärter trat aus der Reihe und machte einen
    plumpen Versuch, aber der Hund tanzte und hüpfte aus seiner Reichweite, für ihn gehörte das alles zum Spiel. Ein junger eurasischer Wärter raffte eine Handvoll Kies auf und warf nach ihm, um ihn zu verscheuchen. Mit einem Seitensprung wich der Hund aus und kam wieder hinter uns her. Sein Bellen hallte von den Gefängnismauern wider. Der Gefangene blickte
    teilnahmslos vor sich hin, als sei auch dies eine Formalität, die zur Hinrichtung gehöre. Erst nach mehreren Minuten gelang es jemandem, den Hund zu fassen. Wir zogen mein Taschentuch
    durch sein Halsband und setzten uns wieder in Bewegung, mit dem Hund, der winselte und sich loszumachen versuchte.
    Bis zum Galgen waren es noch etwa vierzig Yards. Ich hatte den nackten, braunen Rücken des Gefangenen direkt vor mir. Er ging schwerfällig mit seinen gefesselten Armen, aber dennoch stetig und mit dem federnden Schritt der Inder, die niemals die Knie durchdrücken. Bei jedem Schritt strafften und entspannten sich die Muskeln, die Haarlocke auf seinem Schädel wippte auf und nieder, seine Füße drückten sich in dem feuchten Boden ein.
    Einmal trat er, obwohl die beiden Wärter ihn fest gepackt
    hielten, geschmeidig beiseite, um nicht in eine Pfütze zu treten.
    Seltsam, aber bis zu diesem Augenblick war mir nicht bewußt geworden, was es bedeutet, einen gesunden, denkenden
    Menschen zu töten. Als ich den Gefangenen beiseite treten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher