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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals
Autoren: George Orwell
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Menschen erringt. Nun, wahrscheinlich hat er recht mit seiner Annahme, daß eine »vernünftige«,
    geplante Form der Gesellschaft, in der nicht so sehr
    Medizinmänner als vielmehr Wissenschaftler
    Kontrollfunktionen ausüben, früher oder später vorherrschen wird; doch das ist etwas ganz anderes als die Annahme, daß sie sozusagen hinter der nächsten Ecke auf uns wartet. Zur Zeit der Russischen Revolution hat einmal eine interessante Kontroverse zwischen Wells und Churchill stattgefunden, die irgendwo auch schriftlich festgehalten ist. Wells beschuldigte Churchill, daß er in Wirklichkeit seine eigene Propaganda gegen die Bolschewiki, sie seien bluttriefende Monster usw., ja gar nicht glaube, sondern lediglich fürchte, sie könnten eine Ära des gesunden Menschenverstandes und der Herrschaft der Wissenschaft
    einführen, in der Fahnenschwenker wie Churchill nichts zu
    suchen haben würden. Churchills Einschätzung der Bolschewiki
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    war jedoch wesentlich treffender als die von Wells. Die frühen Bolschewiki mögen Engel oder Teufel gewesen sein, je nach
    dem Standpunkt, von dem aus man sie betrachtet, auf keinen Fall aber waren sie vernünftige Leute. Sie führten keine
    Wells'sche Utopie ein, sondern eine Schreckensherrschaft, die wie das puritanische Regiment Oliver Cromwells eine
    Militärdespotie war, gewürzt mit Hexenprozessen. Die gleiche Fehlbeurteilung, nur in umgekehrter Form, findet sich wieder in Wells' Haltung gegenüber den Nazis: In Hitler sind sämtliche Kriegsherren und Medizinmänner der Geschichte verkörpert.
    Deshalb, so argumentiert Wells, ist er eine Absurdität, ein Gespenst aus der Vergangenheit, eine Kreatur, die dazu
    verdammt ist, fast augenblicklich wieder zu verschwinden. Doch unglücklicherweise lassen sich Wissenschaft und gesunder
    Menschenverstand nicht einfach gleichsetzen. Das Flugzeug, ursprünglich als zivilisierender Faktor angesehen, aber in der Praxis kaum zu etwas anderem als zum Bombenwerfen benutzt, ist das Symbol für diese Tatsache. Das moderne Deutschland ist viel wissenschaftlicher ausgerichtet als England - und viel barbarischer. Vieles von dem, was Wells sich vorgestellt und wofür er gearbeitet hat, ist im Nazi-Deutschland verkörpert. Die Ordnung, die Planung, die staatliche Förderung der
    Wissenschaft, der Stahl, der Beton, die Flugzeuge - alles ist da, aber alles im Dienst von Ideen, die der Steinzeit angemessen sind. Die Wissenschaft kämpft auf der Seite des Aberglaubens.
    Aber offensichtlich ist es für Wells unmöglich, dies zu
    akzeptieren. Es würde im Widerspruch zu jener Weltanschauung stehen, auf der seine eigenen Werke basieren. Die Kriegsherren und Medizinmänner müssen versagen, der dem gesunden Menschenverstand entsprechende Weltstaat, gesehen mit den
    Augen eines Liberalen des neunzehnten Jahrhunderts, dessen Herz nicht bei Fanfarenklängen hüpft, muß triumphieren. Von Verrat und Defätismus abgesehen, kann Hitler keine Gefahr bedeuten. Daß er letzten Endes den Sieg davontragen könnte,
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    wäre eine unmögliche Umkehrung der Geschichte, gleich einer jakobitischen Restauration.
    Aber ist es nicht eine Art Vatermord für einen Menschen
    meines Alters (achtunddreißig), den Besserwisser gegenüber H.
    G. Wells herauszukehren? Die denkenden Menschen, die um die Jahrhundertwende zur Welt kamen, sind in gewissem Sinne
    Wells eigene Geschöpfe. Wieviel Einfluß ein einfacher
    Schriftsteller und insbesondere ein »volkstümlicher«
    Schriftsteller hat, dessen Werke eine rasche Wirkung erzielen, ist fraglich; aber ich bezweifle, ob irgend jemand, der zwischen 1900 und 1920 Bücher geschrieben hat - zumindest in englischer Sprache -, die jungen Leute so stark hat beeinflussen können wie Wells. Unser aller Gedankenwelt, und als Folge davon auch
    unsere Umwelt, wären merklich anders, wenn Wells nicht gelebt hätte. Aber eben dieser zielstrebige Geist, diese nur auf einen Zweck ausgerichtete Vorstellungskraft, die ihn zur Zeit Edwards VII. als erleuchteten Propheten erscheinen ließen, machen ihn heute zu einem oberflächlichen, mangelhaften Denker. In Wells'
    jungen Jahren war die Antithese zwischen Wissenschaft und
    Reaktion nicht falsch. Die Gesellschaft wurde von engstirnigen, zutiefst unneugierigen Leuten regiert, raubgierigen
    Geschäftsleuten, trägen Landjunkern, Bischöfen und Politikern, die wohl Horaz zitieren konnten, aber nie etwas von Algebra gehört hatten. Wissenschaft war leicht anrüchig und religiöser Glaube
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