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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
Autoren: Patrick Modiano
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Aufzeichnungen in Form bringen. Ich war überrascht gewesen, als er mich zum ersten Mal mitgenommen hatte in das Verlagshaus »Éditions commerciales de France«: ein fensterloses Erdgeschosszimmer, aber in dem Alter, das ich damals hatte, stellt man sich nicht soviel Fragen. Man vertraut dem Leben. Zwei oder drei Monate später hörte ich nichts mehr von meinem Verleger. Er hatte mir nur die Hälfte der versprochenen Summe gegeben, und das reichte mir vollkommen. Eines Tages – warum nicht morgen, wenn ich die Kraft dazu habe – müsste ich vielleicht eine Wallfahrt unternehmen in die Rue de Saïgon und die Rue de Chalgrin, eine neutrale Zone, wo Béraud-Bedoin und die »Éditions commerciales de France« sich verflüchtigt haben mit dem Schnee jenes Winters. Nein, wenn ich’s mir recht überlege, mir fehlt wirklich der Mut. Ich frage mich, ob es diese Straßen überhaupt noch gibt und ob sie nicht ein für allemal verschluckt wurden von der dunklen Materie.
    Ich gehe lieber an einem Frühlingsabend zu Fuß die Champs-Élysées hinauf. Die gibt es heute nicht wirklich mehr, allein in der Nacht können sie einen noch täuschen. Vielleicht werde ich auf den Champs-Élysées deine Stimme hören, die meinen Vornamen ruft … An dem Tag, als du den Pelzmantel und den gefassten Smaragd verkauft hast, besaß ich noch ungefähr zweitausend Franc von Béraud-Bedoins Geld. Wir waren reich. Die Zukunft gehörte uns. An jenem Abend warst du so nett, zu mir ins Place de l’Étoile-Viertel zu kommen. Es war Sommer, der gleiche wie der, als wir uns mit Totenkopf auf den Quais trafen und ich euch beide auf mich zuschlendern sah. Wir gingen in das Restaurant an der Ecke Rue François-I er / Rue Marbeuf. Sie hatten Tische hinaus aufs Trottoir gestellt. Es war noch hell. Der Verkehr hatte aufgehört, und man vernahm Stimmengemurmel und Schritte. Gegen zehn, als wir die Champs-Élysées entlanggingen, fragte ich mich, ob die Nacht jemals hereinbrechen würde oder ob es hell bliebe wie in Russland und den nordischen Ländern. Wir bummelten ziellos umher, wir hatten die ganze Nacht vor uns. Unter den Arkaden der Rue de Rivoli waren noch Sonnenflecken. Der Sommer hatte erst angefangen, bald würden wir verreisen. Wohin? Das wussten wir noch nicht. Vielleicht nach Mallorca oder nach Mexiko. Vielleicht nach London oder nach Rom. Die Orte waren unwichtig geworden, sie verschmolzen miteinander. Unser einziges Reiseziel hieß: TIEFER SÜDEN, dahin fahren, wo die Zeit stehenbleibt und die Zeiger der Uhr für immer dieselbe Stunde verkünden: Mittag.
    Im Palais Royal war die Nacht hereingebrochen. Wir haben uns eine Weile auf die Terrasse des Ruc-Univers gesetzt und sind dann weiterspaziert. Ein Hund ist uns nachgelaufen, die ganze Rue de Rivoli bis Saint-Paul. Dann ging er hinein in die Kirche. Wir spürten keine Müdigkeit, und Louki sagte, sie könnte die ganze Nacht so weiterlaufen. Wir durchquerten eine neutrale Zone kurz vor dem Arsenal, ein paar menschenleere Straßen, bei denen man sich fragte, ob sie bewohnt waren. Im ersten Stock eines Hauses sind uns zwei große, erleuchtete Fenster aufgefallen. Wir setzten uns auf eine Bank gegenüber und mussten immerzu hinaufstarren zu diesen Fenstern. Es war eine Lampe mit rotem Schirm, ganz hinten, die dieses dumpfe Licht ausstrahlte. Man sah einen Spiegel mit Goldrahmen an der linken Wand. Die anderen Wände waren kahl. Ich lauerte, ob ein Schattenbild hinter den Fenstern auftauchen würde, nein, offenbar niemand in diesem Raum, von dem man nicht wusste, ob er ein Wohnzimmer war oder ein Schlafzimmer.
    »Wir sollten an der Wohnungstür läuten«, hat Louki gesagt. »Ich bin sicher, jemand wartet auf uns.«
    Die Bank stand mitten auf einer Art Insel, gebildet durch die Kreuzung zweier Straßen. Jahre später saß ich in einem Taxi, das am Arsenal entlangrollte, in Richtung der Quais. Ich habe den Fahrer gebeten anzuhalten. Ich wollte die Bank und das Haus wiederfinden. Ich hoffte, die beiden Fenster im ersten Stock wären noch immer erleuchtet, nach all der Zeit. Aber ich hätte mich beinahe verlaufen in den paar kleinen Straßen, die auf die Mauern der Caserne des Célestins zuliefen. In jener Nacht hatte ich ihr gesagt, es lohne sich nicht, an der Tür zu läuten. Keiner würde dasein. Und außerdem fühlten wir uns wohl, dort, auf dieser Bank. Ich hörte sogar irgendwo einen Brunnen plätschern.
    »Bist du sicher?« hat Louki gesagt. »Ich höre nichts …«
    Wir beide waren es, die in der
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