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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
Autoren: Patrick Modiano
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widerstehen soll. Ja, auf längere Sicht liefen wir Gefahr, aufgesaugt zu werden von dieser dunklen Materie.
    Sie wollte nicht in einem Viertel bleiben, das dem Wohnort ihres Mannes allzu nahe war. Gerade einmal zwei Metrostationen. Sie suchte am linken Seineufer nach einem Hotel im Umkreis des Condé oder der Wohnung von Guy de Vere. Dann könnte sie den Weg zu Fuß gehen. Ich dagegen hatte Angst, zurückzukehren auf die andere Seite der Seine, in dieses 6. Arrondissement meiner Kindheit. Zu soviel schmerzhaften Erinnerungen … Doch wozu darüber reden, dieses Arrondissement existiert heute nur noch für Leute, die Luxusläden führen, und für reiche Ausländer, die sich Wohnungen kaufen … Damals jedoch fand ich dort noch Überreste aus meiner Kindheit: die verlotterten Hotels in der Rue Dauphine, der Schuppen für den Religionsunterricht, das Café am Carrefour de l’Odéon, wo ein paar Deserteure der amerikanischen Militärstützpunkte Schleichhandel trieben, die finstere Treppe zum Square du Vert-Galant und die Aufschrift an der dreckigen Mauer der Rue Mazarine, die ich jedesmal auf dem Schulweg las: NE TRAVAILLEZ JAMAIS. Niemals arbeiten!
    Als sie weiter im Süden, Richtung Montparnasse, ein Zimmer mietete, blieb ich in der Nähe der Place de l’Étoile. Am linken Seineufer ging ich Gespenstern tunlichst aus dem Weg. Vom Condé und der Buchhandlung Véga abgesehen, wollte ich mich in meinem alten Viertel lieber nicht allzulange aufhalten.
    Und außerdem musste Geld aufgetrieben werden. Sie hatte einen Pelzmantel verkauft, wahrscheinlich ein Geschenk ihres Mannes. Sie besaß nur noch einen Regenmantel, der zu leicht war, um dem Winter zu trotzen. Sie studierte die Kleinanzeigen, wie sie es kurz vor ihrer Hochzeit getan hatte. Hin und wieder besuchte sie auch in Auteuil einen Automechaniker, einen alten Freund ihrer Mutter, der ihr weiterhalf. Ich wage kaum einzugestehen, welche Art von Arbeit ich selber ausübte. Doch wozu die Wahrheit verbergen?
    Ein gewisser Béraud-Bedoin wohnte im gleichen Häuserblock, in dem mein Hotel lag. Genauer gesagt, in der Rue de Saïgon Nr. 8. Eine möblierte Wohnung. Ich begegnete ihm häufig, und ich erinnere mich nicht mehr, wann wir zum ersten Mal ins Gespräch kamen. Ein Kerl mit verschlagener Miene und gewelltem Haar, der stets ziemlich elegant gekleidet war und eine mondäne Lässigkeit zur Schau trug. Ich saß ihm gegenüber, an einem Tisch des Café-Restaurants in der Rue d’Argentine, es war ein Nachmittag in jenem Winter, als Schnee fiel in Paris. Ich hatte ihm anvertraut, dass ich »schreiben« wollte, als er mir die übliche Frage gestellt hatte: »Und Sie, was machen Sie so im Leben?« Bei ihm, Béraud-Bedoin, hatte ich nicht ganz verstanden, welcher Beschäftigung er nachging. Ich hatte ihn an jenem Nachmittag zu seinem »Büro« begleitet – »gleich hier in der Nähe«, hatte er gesagt. Unsere Schritte hinterließen Spuren im Schnee. Wir mussten nur geradeaus bis in die Rue Chalgrin gehen. Ich habe in einem alten Adressbuch aus jenem Jahr nachgeschlagen, um herauszufinden, wo genau dieser Béraud-Bedoin »arbeitete«. Manchmal erinnern wir uns an gewisse Episoden in unserem Leben und brauchen Beweise, um ganz sicher zu sein, dass wir nicht geträumt haben. Rue Chalgrin Nr. 14. »Éditions commerciales de France.« Da muss es gewesen sein. Heute bringe ich nicht mehr den Mut auf, hinzufahren und das Gebäude in Augenschein zu nehmen. Ich bin zu alt. Damals hatte er mich nicht in sein Büro geführt, sondern wir hatten uns für den nächsten Tag verabredet, um die gleiche Zeit, im selben Café. Er hat mir Arbeit angeboten. Es ging darum, verschiedene Broschüren zu schreiben über Gesellschaften oder Einrichtungen, für die er mehr oder weniger als Vertreter oder Werbeagent tätig war, und diese sollten in seinem Verlag gedruckt werden. Er wollte mir fünftausend damalige Franc zahlen. Aber die Texte würden unter seinem Namen erscheinen. Ich wäre sein Ghostwriter. Er würde mir alle Unterlagen zur Verfügung stellen. Auf diese Weise habe ich etwa zehn kleine Schriften verfasst, Die Mineralwässer aus La Bourboule , Der Tourismus an der Costa Smeralda , Geschichte der Hotels und Kasinos in Bagnoles-de-l’Orne , sowie einige den Banken Jordaan, Seligmann, Mirabaud und Demachy gewidmete Monographien. Jedesmal, wenn ich mich an meinen Arbeitstisch setzte, hatte ich Angst, vor Langeweile einzuschlafen. Aber die Sache war einfach, ich musste nur Béraud-Bedoins
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