Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ilium

Titel: Ilium
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
dieser erstarrten Luft, die jedes Geräusch dämpft und bremst, ist die Stimme des Männertöters voller Kraft. »Dieses Schwein, das sich für einen König hält, wird für seinen Hochmut mit dem Leben bezahlen!«
    »Füge dich«, sagt Athene zum zweiten Mal. »Die weißellbogige Göttin Hera hat mich gesandt, um deinem Zorn Einhalt zu gebieten. Füge dich!«
    Ich sehe ein leichtes Zögern in Achilles’ verrückten Augen. Hera, die Gattin des Zeus, ist die mächtigste Verbündete der Achäer auf dem Olymp und Achilles’ Gönnerin seit dessen seltsamer Kindheit.
    »Lass ab von diesem Streit, und zwar sofort!«, befiehlt Athene. »Nimm die Hand vom Schwert, Achilles. Schmähe Agamemnon mit Worten, wenn es sein muss, aber töte ihn nicht. Gehorche uns, und ich verspreche dir – ich weiß, dies ist die Wahrheit, Achilles, nur ich sehe dein Geschick und kenne die Zukunft aller Sterblichen –, wenn du uns jetzt gehorchst, werden dir eines Tages dreimal so herrliche Gaben wegen der heutigen Schmach bereitstehen. Aber wenn du dich uns widersetzt, stirbst du noch in dieser Stunde. Gehorche uns beiden – Hera und mir –, und du wirst es nicht bereuen.«
    Achilles schneidet eine Grimasse und entwindet sich mit mürrischer Miene Athenes Griff, stößt sein Schwert jedoch wieder in die Scheide zurück. Athene und er sind wie zwei lebendige Gestalten inmitten eines Haufens von Statuen. »Euch beiden, Göttin, kann ich mich nicht widersetzen, auch wenn ich noch so erzürnt bin«, sagt Achilles. »Denn so ist es besser. Wer den Göttern gehorcht, den pflegen auch sie zu erhören.«
    Ein ganz leises Lächeln zuckt um Athenes Mundwinkel, dann verschwindet sie – qtet zurück auf den Olymp – und die Zeit läuft weiter.
    Agamemnon beendet seine flammende Rede.
    Mit dem Schwert in der Scheide tritt Achilles in den leeren Kreis. »Du besoffener Weinschlauch in Menschengestalt!«, schreit der Männertöter. »Du ›Anführer‹ mit dem Blick eines Hundes und dem Herz eines Hirsches, der du uns niemals in den Kampf geführt oder dich mit den Besten der Achäer in einen Hinterhalt gelegt hast – du, dem der Mut fehlt, Ilium zu plündern, und der lieber die Zelte seiner Soldaten plündert – du ›König‹, der du nur über die Nichtigsten unter uns herrschst – dir schwöre ich an diesem Tag mit mächtigem Eid …«
    Die aberhundert Männer um mich herum schnappen fast wie ein Mann nach Luft; dieser versprochene Fluch schockiert sie mehr, als wenn Achilles Agamemnon einfach wie einen Hund niedergestreckt hätte.
    »Ich schwöre dir, alle Söhne Achäas in sämtlichen Heeren werden sich noch nach Achilles sehnen«, schreit der Männertöter mit so lauter Stimme, dass in hundert Metern Umkreis sämtliche Würfelspiele in der Zeltstadt zum Erliegen kommen. »Und du wirst ihnen nichts nützen, Atride, so sehr du dich abhärmst, wenn sie vom männertötenden Hektor niedergemäht werden wie Weizenhalme; du aber wirst dich im Innern zernagen und grämen, weil du den Besten aller Achäer nicht geehrt hast!«
    Und damit macht Achilles auf dem Absatz kehrt, verlässt den Kreis, schreitet mit knirschenden Schritten über den Kiesstrand und verschwindet in der Dunkelheit zwischen den Zelten. Ich muss gestehen, es ist ein grandioser Abgang.
    Agamemnon verschränkt die Arme und schüttelt den Kopf. Andere Männer unterhalten sich in schockiertem Ton. Nestor tritt vor, um seine »In den Tagen des Kampfes gegen die Kentauren haben wir alle zusammengehalten«-Rede zu halten. Das ist eine Abweichung – bei Homer ist Achilles noch da, als Nestor spricht –, und mein wissenschaftlich geschulter Verstand bemerkt es wohl, aber mit den Gedanken bin ich ganz woanders.
    Ich denke an den mörderischen Blick, den Achilles Athene zugeworfen hat, kurz bevor sie ihm die Haare nach hinten zerrte und ihn so einschüchterte, dass er sich unterwarf, und in diesem Augenblick eröffnet sich mir ein so kühner, so offensichtlich zum Scheitern verurteilter, selbstmörderischer und gleichzeitig wundervoller Aktionsplan, dass mir einen Moment lang die Luft wegbleibt.
    »Ist alles in Ordnung mit dir, Bias?«, fragt Orus neben mir.
    Ich schaue den Mann nur groß an. Einen Moment lang weiß ich nicht mehr, wer er ist oder wer »Bias« ist; ich habe meine gemorphte Identität vergessen. Mit einem Kopfschütteln bahne ich mir einen Weg aus der dichten Menge der ruhmreichen Mörder.
    Der Kies knirscht auch unter meinen Füßen, aber ohne den heldenhaften Nachhall von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher