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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition)
Autoren: Dan Chaon
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Nachmittag verderben lassen, obwohl die Typen selbst dann, als sie sich die Speisekarte wie eine Maske vors Gesicht hielt, noch fortfuhren, mit rohen Stimmen zu reden.
    «Ich bin guter Liebhaber», rief der eine mit der orange gefärbten Igelfrisur. «Baby. Wir sollten uns zusammen treffen.»
    Arschlöcher . Sie starrte auf die Speisekarte – die, wie sie feststellte, ausschließlich auf Französisch geschrieben war.
     
    Als sie zurückkam, wartete George Orson schon auf sie.
    «Scheiße, wo zum Teufel warst du?», sagte er, als sie die Zimmertür öffnete.
    Vor Wut schäumend.
    Sie stand da mit ihrem ganzen gemeinsamen Geld im Rucksack und der Einkaufstüte von der Boutique in der Hand, und er schleuderte ihr ein Geschoss entgegen – ein Heftchen, das sie mit einer automatischen Handbewegung abwehrte. Es prallte gegen ihren Handteller und fiel harmlos zu Boden.
    «Da ist dein neuer Pass», sagte er bitter, und sie fixierte ihn lange, bevor sie sich bückte und das Ding aufhob.
    «Wo warst du?», fragte er, während sie mit stoischer Miene den Reisepass aufklappte und hineinschaute. Da war das Foto, das er gestern von ihr gemacht hatte – mit ihrer brandneuen Frisur –, und ein neuer Name: Kelli Gavin, vierundzwanzig Jahre alt, aus Easthampton, Massachusetts.
    Sie sagte nichts.
    «Ich dachte, du wärst … entführt worden oder sonst was», sagte George Orson. «Ich saß hier und dachte: Was mach ich jetzt? Herrgott, Lucy, ich dachte, du hättest mich hier sitzenlassen!»
    «Ich war essen», sagte Lucy. «Ich bin nur für einen Augenblick runter. Ich meine, hast du dich nicht gerade erst beklagt, ich wär nicht selbständig genug? Ich war lediglich –»
    Er räusperte sich, und einen Moment lang dachte sie, er würde gleich anfangen zu weinen. Seine Hände zitterten, und er hatte einen trostlosen Ausdruck im Gesicht.
    «Gott!», sagte er. «Warum tu ich mir das bloß immer wieder an? Ich hab nie etwas anderes gewollt, als einen Menschen zu haben, einen einzigen Menschen, und es haut nie hin. Es haut nie hin.»
    Lucy stand da und sah ihn an, und als er sich in einem Sessel niederließ, beschleunigte sich ihr Herzschlag. «Was redest du da?», sagte sie, und sie vermutete, dass es klug gewesen wäre, sanft, bescheiden, beruhigend zu ihm zu sprechen. Sie hätte auf ihn zugehen und ihn in die Arme nehmen oder auf die Stirn küssen, ihm übers Haar streichen sollen. Aber sie rührte sich nicht von der Stelle und betrachtete ihn lediglich, wie er mit krummem Rücken dasaß, wie ein schmollender Dreizehnjähriger. Sie steckte ihren neuen Reisepass in ihre Handtasche.
    Sie war doch schließlich diejenige, die ängstlich sein sollte. Sie war diejenige, die Anspruch auf Trost und Beschwichtigung gehabt hätte. Sie war diejenige, die mit faulen Tricks dazu gebracht worden war, sich in einen Mann zu verlieben, den es nicht einmal wirklich gab.
    «Was redest du da?», fragte sie noch einmal. «Hast du das Geld bekommen?»
    Er starrte auf seine Hände, die noch immer zitterten und sich um seine Knie krampften. Er schüttelte den Kopf.
    «Wir haben Verhandlungsprobleme», sagte George Orson, und es war nur ein Stimmchen, das nuschelnde erregte Flüstern, das er immer bekam, wenn er aus seinen Albträumen aufwachte.
    Klang ganz und gar nicht nach George Orson.
    «Wir müssen möglicherweise einen viel größeren Anteil abgeben, als ich erwartet hatte», sagte er. «Einen viel größeren. Das ist das Problem, überall Korruption, überall auf der Welt, wohin man auch geht, das ist das Schlimmste an der Sache –»
    Er hob den Kopf, und von dem gutaussehenden Lehrer, den sie einst gekannt hatte, war kaum noch etwas übrig.
    «Ich hätte einfach nur gern einen Menschen, dem ich vertrauen kann», sagte er, und seine Augen ruhten vorwurfsvoll auf ihr, als ob sie ihn betrogen hätte. Als ob sie die Lügnerin wäre.
    «Pack deine Sachen», sagte er kalt. «Wir müssen sofort in ein anderes Hotel umziehen, und ich sitz mir hier seit einer Stunde den Arsch platt und warte auf dich. Du kannst von Glück sagen, dass ich überhaupt noch da bin.»
     
    Während sie unten in der Lobby wartete, wusste Lucy nicht, ob sie wütend oder beleidigt sein sollte. Oder ängstlich.
    Zumindest hatte sie den Rucksack mit ihrem ganzen Geld. Ohne das würde er sie wahrscheinlich nicht verlassen, aber trotzdem – wie er mit ihr geredet, wie er sich in den letzten paar Tagen verändert hatte … Kannte sie ihn überhaupt? Hatte sie auch nur eine
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