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Ich weiß, ich war's (German Edition)

Ich weiß, ich war's (German Edition)

Titel: Ich weiß, ich war's (German Edition)
Autoren: Christoph Schlingensief , Aino Laberenz
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alle sind aufgeregt und schauen erwartungsvoll auf die Leinwand, der Projektor wird vorgewärmt, beginnt zu knattern und zu stinken, es geht los: Ich sehe, wie meine Mutter und ich am Strand liegen – aber über unseren Bauch laufen plötzlich Leute. Das heißt, irgendwelche anderen Personen laufen über uns drüber bzw. durch uns durch. Ich weiß noch, dass ich begeistert war: »Aber wieso? Da waren doch keine anderen Leute am Strand! Wir haben irgendwo Milchreis mit Zimt und Zucker gegessen und sind dann zum Strand gegangen, klar, das stimmt, aber da waren definitiv keine anderen Leute …« Mein Vater hat’s mir dann erklärt.
    Man war damals als Kind ja noch nicht so geschult wie heute, gerade mal drei Fernsehsender gab’s. Der eine hatte ein verrauschtes Bild mit Ton, der zweite Bild, aber keinen Ton und der dritte Kanal hatte beides, aber permanente Störungen. Einmal durfte ich einen Boxkampf im Fernsehen sehen, da soll ich vier gewesen sein. Meine Mutter war in der Küche, ich saß im Wohnzimmer und sah zu, wie die Männer aufeinander einschlugen. Als einer der beiden k. o. war, habe ich angeblich den Fernseher ausgemacht und zu meiner Mutter nur gesagt: »Mann tot, Fernseher aus.« Wochenlang habe ich kein Fernsehen mehr geguckt, weil der Mann ja k. o. war, also weg, nicht mehr auf Sendung sozusagen. Auch ein Zentralerlebnis, weil bei »Dick und Doof«, bei Charlie Chaplin oder »Fuzzy dem Banditenschreck« (eine Lieblingssendung meines Vaters und mir) alle K.-o.-Geschlagenen sofort wieder aufstanden. Genauso bei »Tom und Jerry«. Da standen selbst die Explodierten wieder auf oder die von Steinplatten Plattgekloppten. Also was war denn nun die Wahrheit? Wie ging das alles zusammen?
    Und dann die Leute auf meinem Bauch, ganz klar zu sehen, aber nicht wirklich real. Genau 1968 fand im Filmmaterial für mich die Revolution statt, die Revolution der Irritation. Ich glaube, von da an fing das an mit den Fragen: Was ist denn da los? Was stimmt denn da nicht? Wo ist der Fehler? Und später dann: Was ist, wenn das gar kein Fehler war? Wenn wir in Wahrheit alle doppelt, dreifach, vierfach belichtet werden? Wenn das Leben der Hauptdarsteller ist, der unsere Pläne ständig durchkreuzt, der unsere Ideen, wie unser Leben sein müsste, permanent hintertreibt? Und wir alle wahnsinnig damit beschäftigt sind, diese Mehrfachbelichtungen und Überblendungen zu ignorieren bzw. zu bekämpfen, statt sie produktiv zu nutzen?
    Natürlich habe ich mir diese Gedanken nicht alle mit acht Jahren gemacht. Aber dieses Bild von meiner Mutter und mir mit den anderen Leuten auf unseren Bäuchen fällt mir immer wieder ein, wenn ich darüber nachdenke, was mich im Leben und in der Kunst antreibt. Vielleicht ist dieser Moment meine Urszene, da habe ich begriffen, dass das hier auf der Welt nicht ganz so problemlos laufen wird, wie wir uns das im Mutterleib vorgestellt haben. Da hat’s geblubbert, man wurde geschaukelt – manchmal ziemlich heftig geschaukelt, Irritationen gab’s da sicher auch schon genug –, aber insgesamt lief es doch vermutlich relativ unkompliziert. Und dann irgendwann der Knall, man rutscht raus, startet ins Leben, rast los, hierhin, dahin, und irgendwann stellt man fest: Man wird nicht der, der man sein wollte, man kann es gar nicht werden, weil die Unschärfe ins Spiel kommt und man permanent neu belichtet wird. Oder weil man schon vorbelichtet ist, wenn man loslegen will. Wir gehen nicht unbelichtet in die Dinge, da bin ich sicher. Ich zum Beispiel musste für meine Eltern sechs Kinder darstellen. Ich hatte zumindest immer dieses Gefühl, weil meine Mutter und mein Vater eigentlich sechs Kinder haben wollten, es aber erst nach neun Jahren geklappt hat. Das heißt also: Neun Jahre Rumrödeln im Bett, dann kam ich endlich auf die Welt, danach wieder Rumrödeln, aber da kam dann niemand mehr. Ich bin also seit 1960 auf der Welt und habe den Auftrag, sechs Kinder darzustellen. Sechs Personen in mir am Start, die bis heute tun und machen – eine sechsfache Belichtung, eine Totalschizophrenie.
    Das ist natürlich mein eigenes Problem, wahrscheinlich hat nicht jeder mit sechs Leuten in sich zu kämpfen. Aber ich glaube trotzdem fest daran, dass diese Ebenen in uns allen schlummern, dass wir alle nicht so scharf umrissen und stabil gebaut sind. Daher ist diese Mehrfachbelichtung im Film der Hit, finde ich. Dass es ein Medium gibt, wo Sachen zusammenkommen können, die gar nicht zusammengehören, wo neue Bilder
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