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Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden

Titel: Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Autoren: Nojoud Ali , mit Delphine Minoui
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Töchter noch vor der Pubertät zu verheiraten. »Armut, Bildungsmangel und Traditionen spielen ebenfalls eine Rolle«, bemerkt Husnia al-Kadri. Familienehre, Angst vor Ehebruch, Begleichung alter Rechnungen zwischen Clans: die Gründe, die Eltern vorbringen, sind ebenso zahlreich wie verschieden. Und ein jemenitisches Sprichwort besagt: »Heirate ein Mädchen mit neun, und deine Ehe wird glücklich sein.«
    Das große Problem ist, dass die Zwangsverheiratung von Kindern für viele Jemeniten einfach etwas ganz Normales ist. »Vor kurzem starb ein neunjähriges jemenitisches Mädchen, das mit einem Saudi verheiratet worden war, drei Tage nach der Hochzeit. Die Eltern hätten entsetzt sein müssen! Stattdessen haben sie sich eiligst bei dem Ehemann entschuldigt und ihm als Ersatz die siebenjährige Schwester des Mädchens angeboten, so als hätten sie ihm schlechte Ware geliefert«, erzählte mir vor kurzem Nadia al-Saqqaf, die Chefredakteurin der
Yemen
Times.
Während uns das Aufbegehren von Nojoud als mutige Tat erscheint, sehen die Traditionalisten darin einen Skandal – und ganz Hartgesottene gar ein Ehrverbrechen.
    Verglichen mit dem Glanz und Glamour von New York wirkt die tägliche Realität unserer kleinen jemenitischen Heldin nicht gerade wie eine Märchenwelt.
    Nojoud ist ihrem Wunsch entsprechend zu ihren Eltern zurückgekehrt. Ihre großen Brüder betrachten die internationale Aufmerksamkeit, die ihre Scheidung ausgelöst hat, mit Argwohn. Die Nachbarn beschweren sich über die vielen ausländischen Fernsehteams. Nicht alle, die sich nach ihrer Geschichte erkundigen, tun dies in bester Absicht. Ihr früherer Ehemann ist längst nicht mehr im Gefängnis. Die Familie von Nojoud hat alle Verbindungen zu ihm abgebrochen, und niemand weiß, wo er sich derzeit aufhält.
    Auch Shada ist vor Misshelligkeiten nicht gefeit. Böse Zungen werfen ihr vor, sie hätte den Jemen in schlechtes Licht gesetzt. Unterdessen bemühen sich Nichtregierungsorganisationen, die Bevölkerung auf dem Land für die Probleme solcher Zwangsehen zu sensibilisieren. Mit Rücksicht auf die vorhandenen Empfindlichkeiten wägt Oxfam, die in dieser Region am stärksten engagierte Organisation, in Workshops zu diesem Thema die Worte sehr genau ab. Statt vom »legalen Heiratsalter« spricht man lieber vom »Schutzalter« und legt den Akzent damit auf die Risiken einer allzu frühen Verheiratung: psychologische Traumata, Kindbettfieber, Schulabbruch. Doch die Aufgabe bleibt schwierig. »Es ist schon mehrfach vorgekommen, dass Scheichs gegen Mitarbeiter vor Ort eine Fatwa ausgesprochen haben, unter dem Vorwurf, sie würden den Islam missachten und westlicher Dekadenz Vorschub zu leisten«, vertraute mir Souha Bashren von Oxfam an. Der Weg zu einer besseren Zukunft bleibt lang und steinig …
     
    Das Viertel von Nojoud liegt nachts nicht wie New York im Lichterglanz. Im Winter ist es kalt, Brennmaterial ist teuer. Lange Abendkleider sieht man in Sanaa nur im Schaufenster. Frühmorgens heißt es für Nojoud, aufzustehen und Brot für die ganze Familie zu kaufen. Nicht selten versagt der Wecker den Dienst. Die großen Brüder hingegen schlafen bis zum Frühstück. Nojouds Vater, kränklich und fiebrig, hat selten Arbeit. Ihre Mutter, die nicht lesen kann, vernachlässigt manchmal ihre Pflichten.
    Trotz all dieser Schwierigkeiten geht die kleine Geschiedene nun in Begleitung ihrer Schwester Haïfa wieder zur Schule. Während wir hier an dieser Neuausgabe arbeiten, fängt für die beiden bald das dritte Schuljahr an.
    Die Tantiemen für dieses Buch, das in zwanzig Sprachen übersetzt wurde, ermöglichen die Schulausbildung und die Unterstützung der Familie: Lebensmittel, Wohnung, Schulhefte und Kleider für die Kinderschar … Später einmal werden sie Nojoud auch helfen, zu studieren und eine Hilfsorganisation für Mädchen in Not zu gründen, wie es ihr Traum ist. Und außerdem möchte sie weiter ihre Familie unterstützen.
    Jedes Mal, wenn ich nach Sanaa komme, wünscht sie sich Buntstifte von mir. Dann kauert sie auf dem Fußboden des bescheidenen Wohnraums und zeichnet immer dasselbe: ein buntes Haus mit vielen Fenstern. Einmal habe ich sie gefragt, ob das ein Wohnhaus, eine Schule oder ein Pensionat sei. »Das ist das Glückshaus. Das Haus für glückliche Mädchen«, hat sie mir lächelnd geantwortet.

     
    Delphine Minoui
    September 2009

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    Aba:
arabisches Wort für »Papa«
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Das
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