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Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden

Titel: Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Autoren: Nojoud Ali , mit Delphine Minoui
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lacht sie, sie hat in der Ferne eine Herde Schafe entdeckt. Unser Häuschen liegt am Ende einer ungeteerten Sackgasse, direkt hinter einer Coca-Cola-Fabrik und einem zur Hälfte brachliegenden Feld, auf das die Schäfer morgens ihre Tiere treiben. Haïfa und ich sitzen nebeneinander auf der Rückbank und lächeln uns verständnisvoll an, als der Wagen startet. Wir brauchen uns gar nichts zu sagen, wir wissen, dass wir in diesem Augenblick beide glücklich sind. Und auch ein wenig ängstlich. Wie habe ich diesem Tag entgegengefiebert, an dem ich endlich wieder zeichnen darf, Arabisch und Mathematik lernen kann, den Koran studieren! Als ich im Februar die Schule verlassen musste, konnte ich bis hundert zählen. Nun will ich bis zu einer Million zählen lernen!
    Das Gesicht an die Scheibe gepresst, werfe ich einen Blick zum blauen Himmel. Heute Morgen hat der Wind die Wolken vertrieben. Die Straßen sind noch weitgehend leer, die Händler haben die eisernen Rollläden noch nicht geöffnet. Der alte Nachbar, der immer über die Journalisten vor unserer Tür schimpft, ist noch nicht aus seinem Haus getreten, um uns von seiner Treppe aus zu beobachten. Auch vor der Bäckerei an der Ecke gibt es noch keine Schlange. Dieses Jahr fällt der erste Schultag in den Ramadan. Die halbe Stadt schläft noch.
    Zum ersten Mal faste ich wie die Großen zwischen dem Morgen- und dem Abendgebet. Anfangs ist mir das bei der Hitze nicht leicht gefallen. Mein Hals war trocken, ich hatte großen Durst. Manchmal habe ich sogar geglaubt, ich würde gleich in Ohnmacht fallen. Doch ich habe diesen langen Monat der Sammlung und des Feierns schätzen gelernt, in dem man so anders lebt als im übrigen Jahr. Wenn sich am späten Nachmittag die Sonne hinter die Häuser senkt, dann essen wir Datteln,
shorba
, eine Gerstensuppe, und
floris
, kleine frittierte Bällchen aus Kartoffeln und Fleisch. Das sind typische Gerichte für den Ramadan.
    Am Abend bleiben wir lange auf – bis drei Uhr morgens. In den Restaurants herrscht die ganze Nacht Betrieb, und auch in den Boutiquen und Spielzeugläden brennt lange das Licht. In der Altstadt um das Bab al-Yemen, das Jementor, gibt es kaum ein Durchkommen.
    Beim ersten Aufwachen am Morgen, um fünf Uhr, zum Morgengebet, habe ich Gott dafür gedankt, mich in den letzten Monaten nicht verlassen zu haben. Ich habe ihn gebeten, mir zu helfen, mein zweites Schuljahr zu bestehen und gesund zu bleiben. Ich habe ihn auch darum geben,
Aba
und
Omma
zu helfen, Geld zu verdienen, damit meine Brüder nicht mehr auf der Straße betteln müssen und damit Fares wieder lachen kann. Wenn man nur alle Kinder zum Schulbesuch verpflichten könnte, das würde Jungen wie ihn davon abhalten, an den Kreuzungen
kath
zu verkaufen. Ich habe auch intensiv an
Jad
gedacht, meinen Großvater. Er fehlt mir sehr, aber ich bin sicher, dass er von da oben stolz auf mich herabsieht.
    Das Taxi biegt in die Hauptstraße ein, die zum Flughafen führt. Wir passieren einen Kontrollposten der Armee. Davon gibt es seit einigen Monaten viel mehr, wegen der Terroristen von al-Qaida, sagt man. Wir biegen nach rechts ab, vorbei an Häusern, deren Dächer Satellitenschüsseln tragen. Vielleicht haben wir auch eines Tages einen Fernseher. Der Fahrer drückt auf einen Knopf, und die hinteren Fenster öffnen sich automatisch. In der Ferne höre ich Mädchen singen. Je näher wir kommen, desto deutlicher wird die Melodie.
    »Da wären wir«, sagt der Fahrer und hält vor einem großen schwarzen Eisentor.
    Die Fahrt hat kaum fünf Minuten gedauert. Ein Schauer von Begeisterung und Vorfreude durchläuft meinen ganzen Körper. Nun ist der Gesang der Mädchen so deutlich, dass ich die Worte verstehen kann – es ist ein alter Abzählreim, den ich im letzten Jahr gelernt habe. Hinter dem Tor ist meine neue Schule.
    »Guten Tag, Nojoud!«
    Shada! Was für eine Überraschung! Ich werfe mich in ihre Arme und drücke sie ganz fest. Sie wollte an meinem großen Tag unbedingt dabei sein. Wenn sie wüsste, wie froh ich bin, ein bekanntes Gesicht zu sehen! Das Tor öffnet sich auf einen großen, mit Kies bestreuten Hof. Das graue, zweistöckige Ziegelgebäude beherbergt etwa zehn Klassenzimmer. Alle Mädchen tragen die gleiche Uniform wie ich, grün und weiß. Ich kenne niemanden. Das macht mir ein wenig Angst. Shada stellt mich der Direktorin vor, Njala Matri, eine schwarz verschleierte Frau, von der ich nur die Augen sehe.
    »
Kifalek
, Nojoud?« – »
Wie geht es dir,
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