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Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Titel: Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Autoren: Mary Bauermeister
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Kürten, bei denen meine beiden jüngsten Kinder dann genauso verwöhnt wurden wie Stockhausens eigene. Er war allerdings erleichtert gewesen, dass ich für Sofie und Esther wieder meinen Mädchennamen annahm. Dass ich seinen Namen ablegte, nahm er mir ein wenig übel, aber was die Kinder betraf, sollten doch nur die eigenen seinen Namen tragen.
    Als Stockhausen im August 1978 seinen fünfzigsten Geburtstag beging, fand ein großes Fest auf Schloss Georgshausen in der Nähe von Kürten statt. Seine Frauen, Kinder, Enkel, Mitarbeiter, Interpreten, Kollegen und Freunde waren anwesend. Doris’ und meine Mutter wurden auf Ehrensesseln in der Mitte platziert. Stockhausen begann seine Dankesrede an alle Mitwirkenden an seinem Werk: »Liebe Frauen, liebe Schwiegermütter, liebe Kinder, liebe Enkel, liebe Geliebte …« – er blickte in die Runde. Meine Mutter ergänzte laut: »Liebe Verflossene und Zukünftige«, und erhob mit eleganter Geste ihren Arm in Richtung der jungen Sängerinnen und Tänzerinnen, die erst erröteten, dann im Beifall aller Gäste ihre Hemmungen verloren und mitlachten. Sie verehrten den Maestro, waren glücklich, ihm ihr Talent zur Verfügung zu stellen und oft auch ihre Liebe.
    Nach jener Geburtstagsnacht verließ mich mein damaliger Partner, der Schweizer Psychologe Buszia Wucher. Es war zu viel für ihn. Er kam in unserer Welt nicht mit, und als Nebenfigur zum Platzhirsch Stockhausen mochte er nicht fungie ren. Im Unterschied zu meinen drei Künstlermännern, den Vätern meiner Kinder, war er jemand, der nach bürgerlichen Vorstellungen lebte. Mit vierundvierzig Jahren verabschiedete ich mich also von meinem letzten Partner. Ich dankte ihm 2006 an seinem Sterbebett dafür, dass er in einer schwierigen Zeit meines Lebens bei mir gewesen war.

18
Die Liebe ist stärker als der Tod
    Stockhausen und ich sitzen etwas erhöht, wie über der Welt, und schauen mit zwei Augenpaaren, aber so, als wäre es nur eines. Wir nehmen gemeinsam wahr, was vergangen ist, sehen in den Raum, in die Räume und in die Zeit. Zunächst in unsere, dann in die der Welt, schließlich in die der Welten. Unsere Blicke weiten sich, nehmen Abstand vom Kleinen, vom Detail, öffnen sich für größeres Erkennen, bis wir die ganze Gewaltigkeit der Schöpfung in uns fühlen. Bis wir regelrecht verschmelzen, zunächst miteinander, dann mit allem um uns.
    Diese meditative Übung war uns zum Ritual geworden, wenn uns Alltägliches oder menschliche Schwächen hinabzogen und uns die Schaffensfreude nahmen. Als wir diese Vision zum ersten Mal hatten – sie war ja nicht bewusst angestrebt, sie überkam uns –, saßen wir auf einer Düne und blickten weit über das Meer bis zum Horizont. Wir merkten erst nach einer gewissen Zeit, was wir erlebt hatten, und noch tagelang waren wir wie verzaubert davon.
    Nun sitzen wir wieder dort, mit Blick in die Zukunft, und tragen die Vergangenheit auf unseren Schultern. Alle Vorfahren motivieren uns zu diesem gemeinsamen Hinschauen auf unsere Nachkommen. Beide Richtungen, die in die Vergangenheit und die in die Zukunft, verlieren sich, entschwinden unserer Sicht, denn wir sind zunächst auf uns und die nähere Zeit fokussiert, Stockhausen etwas über hundert Jahre, ich etwas unter hundert Jahre alt. Wir müssen also schon tot sein. Wir schauen auf die Kinder, seine, unsere, meine. Wir sehen die Enkel, Urenkel und auch schon drei Ururenkel, sie leben in einer völlig anderen Welt, einer hellen, leichten, nicht leichtfertigen, aber einer vom Gemeinwohl aller Wesen getragenen, harmonischen Umwelt. Sie leben behutsamer und bewusster, als wir es getan hatten. Auch das äußere Bild dieser Welt ist uns neu. Wir erkennen nichts Gewohntes.
    Nun merken wir, dass wir nicht allein sind. In unserem Gesichtskreis erscheinen mehr und mehr Menschen. Mitmenschen aus unserer Jugendzeit, seine Frauen, seine Freunde, Musiker, meine Freunde, Künstler, Denker. Wir alle befinden uns miteinander im Einklang, sind dabei aber nicht stumm, denn jeder klingt, gibt einen Ton von sich. Diese Töne sind kein Singen, sondern Eigenschaften unseres Auf-der-Welt-Seins, und alles mischt sich zu einem großen Akkord.
    Das hatten wir schon einmal gemeinsam erlebt, dieses Erlauschen der Sphärenmusik. Sie hatte sich uns nicht so einfach »von oben« geschenkt, wir hatten uns zu ihr hochgehoben durch eine von uns geleistete Anstrengung, so als würde man nach langer, mühsamer Bergbesteigung oben anlangen und die Sonne aufgehen sehen.
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