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Ich habe sie geliebt

Ich habe sie geliebt

Titel: Ich habe sie geliebt
Autoren: Anna Gavalda
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nach ihr. Er liebte sie abgöttisch. Er kannte sie, seit sie zwölf war, schrieb ihr Briefe, die sie bestimmt nicht einmal verstand. Er zog in den Krieg aus purem Trotz. Damit sie sah, was für ein Mann er war! Noch am Tag vor seiner Abreise tat er sich wichtig, der Esel: ›Wenn sie danach fragen sollte, gebt ihr nicht sofort meine Adresse, ich will derjenige sein, der zuerst schreibt …‹ Drei Monate später verlobte sie sich mit dem Metzgersohn aus der Rue de Passy.«
    Er schüttete rund zehn verschiedene Gewürze darüber, alles, was er in den Schränken finden konnte.
    Ich weiß nicht, was Bocuse davon halten würde.
    »Ein großer unscheinbarer Junge, der seine Tage in der Metzgerei seines Vaters mit dem Entbeinen irgendwelcher Fleischstücke verbrachte. Was für ein Schock für uns alle, du kannst es dir vorstellen. Sie hatte unseren Paul für diesen Tölpel abgewiesen. Paul war weit weg, am anderen Ende der Welt, vielleicht dachte er gerade an sie, dichtete Verse für sie, dieser Dummkopf, und sie, sie hatte nichts anderes im Kopf als samstags abends mit diesem Dickwanst auszugehen, der das Auto von seinem Papa borgen durfte. Einen himmelblauen Renault Frégate, das weiß ich noch. Natürlich hatte sie das Recht, ihn nicht zu lieben, natürlich, aber Paul war in allem so überschwenglich, er machte alles mit Bravour – mit Glanz. Die reinste Verschwendung.«
    »Und dann?«
    »Nichts dann. Paul ist zurückgekehrt, und meine Mutter hat den Metzger gewechselt. Er verbrachte viel Zeit im Haus, das er fast nicht mehr verließ. Er zeichnete, er las, er klagte darüber, nicht mehr schlafen zu können. Er litt sehr, hustete unablässig, und dann starb er. Mit einundzwanzig.«
    »Du redest nie von ihm.«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Ich habe gern mit Leuten darüber geredet, die ihn gekannt haben, das war einfacher.«
    Ich schob meinen Stuhl ein Stück zurück.
    »Ich werde jetzt den Tisch decken. Wo wollen wir essen?«
    »Hier in der Küche, das ist bestens.«
    Er schaltete das große Licht aus, und wir setzten uns einander gegenüber.
    »Schmeckt köstlich.«
    »Meinst du wirklich? Ich habe den Eindruck, es ist ein bißchen verkocht, oder?«
    »Nein, nein, überhaupt nicht, es ist perfekt.«
    »Was bist du gut.«
    »Der Wein ist gut. Erzähl mir von Rom.«
    »Von der Stadt?«
    »Nein, von dieser Pilgerreise. Wie warst du, als du fünfzehn warst?«
    »Ach – wie ich war? Ich war der kindischste Junge der Welt. Ich versuchte, mit Frendall mitzuhalten. Ich hechelte hinter ihm her, erzählte ihm von Paris, vom Moulin-Rouge, behauptete irgendwelchen Blödsinn, erzählte dreiste Lügen. Er lachte, erwiderte Dinge, die ich nicht verstand, und ich lachte ebenfalls. Wir brachten die Zeit damit zu, Münzen aus den Brunnen zu fischen und zu feixen, sobald wir einer Person des anderen Geschlechts begegneten. Wir waren wirklich rührend, wenn ich daran zurückdenke. Ich kann mich heute nicht mehr an den Sinn der Pilgerreise erinnern. Das Ganze diente sicherlich einem guten Zweck, einem heiligen Ziel, wie man sagt. Ich weiß es nicht mehr. Für mich war das Ganze eine geballte Ladung Sauerstoff. Diese wenigen Tage haben mein Leben verändert. Ich hatte den Geschmack der Freiheit gekostet. Es war wie … Darf ich dir noch was draufgeben?«
    »Gern.«
    »Man muß auch das ganze Drumherum sehen. Gerade hatten wir so getan, als würden wir einen Krieg gewinnen. Die Luft hatte einen bitteren Beigeschmack. Wir konnten keinen Menschen erwähnen, keinen Nachbarn, keinen Ladenbesitzer oder die Eltern eines Kameraden, ohne daß mein Vater sie sofort in eine Schublade steckte: Opfer eines Verrats oder Verräter, Feigling oder Taugenichts. Es war schrecklich. Du kannst es dir nicht vorstellen, aber glaube mir, für Kinder ist es schrecklich. Wir redeten im übrigen fast überhaupt nicht mehr mit ihm, oder nur ganz selten, das absolute Minimum zwischen Vater und Sohn vielleicht. Einmal habe ich ihn dennoch gefragt: ›Wenn sie so schäbig war, eure Humanität, warum habt ihr denn dann für sie gekämpft?‹«
    »Was hat er geantwortet?«
    »Nichts – mit Verachtung.«
    »Danke, danke, das reicht!«
    »Ich wohnte im ersten Stock eines grauen Häuserblocks im hintersten Winkel des sechzehnten Arrondissements. Traurig war es da. Meine Eltern hatten nicht die Mittel, sich dort eine Wohnung zu leisten, aber es war so eine angesehene Adresse, verstehst du. Das Nobelviertel! Wir hausten auf engstem Raum in einer finsteren Wohnung, in die nie
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