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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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besten Stuhl an, ließen etwas Essen besorgen und sahen ihm zu, wie er aß und sich dann wusch. Er tat es so ungeschickt, war durch den verwundeten Arm so behindert, daß meine Frau sich lachend zu ihm stellte und ihm mit meinem Schwamm das Gesicht und den Hals und die Hände wusch. Er erzählte auch jetzt nichts von seinen Erlebnissen. Kein Wort, wie er aus Deutschland entflohen war. Ich zeigte ihm seinen Namen auf der Liste. Er zuckte die Achseln, wahrscheinlich war er mit seinen Gedanken anderswo. Er hatte kein französisches Geld außer ein paar kleinen Münzen, aber einen Reisekreditbrief auf ein paar hundert Franc. Er forderte mich auf, ich solle sofort zur Bank gehen und das Geld für ihn einlösen, ich wandte ein, man würde es mir nicht ausfolgen. Zum mindesten müsse er mir ein Legitimationspapier mitgeben. ›Dir?‹ fragte er lakonisch. Er sah meine Frau an, und sie gab mir einen Wink, ich solle gehen. Kaum war ich aus der Tür, hörte ich ihre ersten Worte, und zwar in einem solchen leidenschaftlichen Ton gesprochen, wie ich ihn seit meiner Abreise von S. von ihr nicht gehört hatte: ›Und Bobby?‹ (Robert). Er rückte seinen Stuhl näher zu ihr, ich hörte seine Schritte auf dem teppichlosen Fußboden knarren, er sprach so schnell, daß ich nicht folgen konnte und wollte. Ich ging. Das Geld bekam ich wider Erwarten doch ausgezahlt. Ich erlaubte mir den Luxus, von diesem Geld eine Flasche guten Weines und Blumen zu besorgen, und brachte sie meiner Frau und ihm. Sie achteten nicht weiter darauf. Sie saßen sich mit heißen Köpfen beim Schachspiel gegenüber. Ich sah ihren Zügen zu. Manchmal hätte ich ihm helfen wollen, der ein stärkerer, aber unvorsichtiger Spieler war, bald ihr, die jetzt nur mit der Routine spielte und eigentlich immer unterlegen war. Ich hatte aber (stärker als früher) immer bei dem schwächeren Spieler den Wunsch, einzugreifen, einen Rat zu geben, vielleicht durch einen Blick, und das Schicksal zu spielen.
    Seit der Haft hatte es mich immer entschiedener auf die Seite des Schwächeren getrieben. Hier aber war nichts im Spiel als das Spiel. Ich beherrschte mich und ließ allem seinen Lauf.
    Abends quartierte sich Helmut in meinem Zimmer ein. Er hatte auch jetzt noch heiße Wangen, und sein Puls ging schnell. Er fragte mich, halb im Scherz, halb im Ernst, ob ich ihm den Verband nicht noch schnell wechseln, seine Wunde untersuchen, ihn behandeln wolle als sein ältester, sein einziger Freund. War es Spott, war es Ernst? Ich tat, als nähme ich es als Scherz, und sagte, hier sei fremden Ärzten das Handwerk gelegt, aber ich wolle ihn am nächsten Morgen in eine französische Klinik bringen, wo man die Unbemittelten umsonst behandele und wo für alles in modernster Weise gesorgt sei.
    Wir entkleideten uns im Dunkeln, erst als ich im Einschlafen war, erinnerte ich mich, wir hatten einander nicht gute Nacht gesagt.
     
    Ich hätte eigentlich Helmut dankbar sein müssen, daß er gekommen war. Seine Anwesenheit beruhigte mich. Etwas von der alten Zeit, von der Vorkriegszeit, war mit ihm wiedergekehrt, und ich schlief jene Nacht besser als die ganze Zeit zuvor. Mein Rücken war stellenweise immer noch wund, nämlich dort, wo sich die Striemen kreuzten. Ich mußte auf dem Leib liegend schlafen, und dann bekam ich wiederum zuwenig Luft. In dieser Nacht hatte ich sowohl genug Luft als auch keine Schmerzen in den Narben von dem Ochsenziemer. Ich stand vor ihm auf, ich schämte mich, mich in seiner Gegenwart zu waschen und ihm den Anblick meiner elenden Leiblichkeit zuzumuten. Aber war es ihm um soviel besser ergangen? Er hatte sich über seine Erlebnisse vom 30. Juni ausgeschwiegen. Als ich aus dem Zimmer meiner Frau zurückkam zu ihm, stand er gerade am Waschtisch. Ich hatte nicht geklopft, ich dachte, was brauchte es das zwischen Jugendkameraden? Er schreckte beim Schall der zugeschlagenen Tür auf, stürzte instinktiv wie ein aufgescheuchtes Wild zu dem verwühlten Lager (er hatte also unruhiger geschlafen als ich) und riß unter dem Kopfpolster eine riesige automatische Pistole hervor. Er konnte sie nur mit einer Hand richtig bedienen, der rechten, die linke war durch den Verband behindert. Ich lachte, er stutzte. Ich hatte keine Angst vor Riesenpistolen, wohl aber hatte ich Angst vor dem vertierten, wahrhaft bestialischen, gehetzten Ausdruck seines fahlen häßlichen Gesichts. Er zwang sich zu lachen und tat, als sei alles Scherz und Theater. Ich trat, mich bezwingend, zu ihm, nahm ihm
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