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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Autoren: S. J. Watson
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sagen, bringe aber nur ein gedämpftes Brummen heraus. Er sieht mich nicht an, als er das Blatt ansteckt und dann in den Eimer wirft.
    »Nein!«, sage ich wieder, doch diesmal ist es ein lautloser Schrei in meinem Kopf. Ich sehe zu, wie meine Geschichte langsam in Flammen aufgeht, meine Erinnerungen sich in Asche verwandeln. Mein Tagebuch, der Brief von Ben, alles. Ich bin nichts ohne dieses Tagebuch, denke ich. Nichts. Und er hat gewonnen.
    Was ich dann tue, ist ungeplant. Instinktiv. Ich hechte auf den Eimer zu. Mit gefesselten Händen kann ich den Sturz nicht abfangen, und ich falle ungelenk dagegen, höre, wie irgendetwas knackt, als ich mich verdrehe. Schmerz schießt mir durch den Arm, und ich meine, ohnmächtig zu werden, was aber nicht passiert. Der Eimer kippt um, brennendes Papier verteilt sich über den Fußboden.
    Mike schreit auf – ein Kreischen – und fällt auf die Knie, schlägt mit flachen Händen auf den Boden, um die Flammen zu löschen. Ich sehe, dass ein brennender Fetzen unter dem Bett gelandet ist, unbemerkt von Mike. Schon züngeln Flammen am Saum der Tagesdecke, doch ich bin dazu verdammt, hilflos und stumm zuzusehen, wie die Tagesdecke Feuer fängt. Sie beginnt zu qualmen, und ich schließe die Augen. Das Zimmer wird brennen, denke ich, und Mike wird brennen, und ich werde brennen, und niemand wird je wirklich erfahren, was hier passiert ist, in diesem Zimmer, genau wie niemand je wirklich erfahren wird, was damals hier geschehen ist, und die Vergangenheit wird sich in Asche verwandeln und durch Mutmaßungen ersetzt werden.
    Ich huste, ein trockenes Würgen, verschluckt von der zusammengeknüllten Socke in meinem Mund. Ich ersticke allmählich. Ich denke an meinen Sohn. Jetzt werde ich ihn niemals wiedersehen, aber zumindest sterbe ich in dem Wissen, dass ich einen Sohn hatte, dass er lebt und glücklich ist. Darüber bin ich froh.
    Ich denke an Ben. Den Mann, den ich geheiratet und dann vergessen habe. Ich möchte ihn sehen. Ich möchte ihm sagen, dass ich mich jetzt, am Ende, an ihn erinnern kann. Ich kann mich daran erinnern, wie ich ihn auf der Party auf dem Dach kennengelernt habe und er mir auf einem Berg mit Blick über eine Stadt einen Heiratsantrag gemacht hat, und ich kann mich an unsere Hochzeit in einer Kirche in Manchester erinnern, wie wir im Regen fotografiert wurden.
    Und ja, ich kann mich daran erinnern, dass ich ihn liebte. Ich weiß, dass ich ihn jetzt liebe und immer geliebt habe.
     
    Es wird alles dunkel. Ich kriege keine Luft. Ich kann das Lodern von Flammen hören und ihre Hitze auf meinen Lippen und Augen spüren.
    Für mich sollte es nie ein Happy End geben, das weiß ich jetzt. Aber das ist in Ordnung.
     
    Es ist in Ordnung.
    ***
    Ich liege. Ich habe geschlafen, aber nicht lange. Ich kann mich erinnern, wer ich bin, wo ich gewesen bin. Ich kann Geräusche hören, Verkehrsrauschen, eine Sirene, deren Tonhöhe nicht steigt und fällt, sondern gleich bleibt. Irgendetwas ist auf meinem Mund – ich denke an eine zusammengeknüllte Socke –, doch ich merke, dass ich atmen kann. Ich bin zu verängstigt, um die Augen zu öffnen. Ich weiß nicht, was ich sehen werde.
    Aber ich muss sie öffnen. Ich habe keine andere Wahl, als mich meiner Realität zu stellen, wie immer sie jetzt auch aussehen mag.
    Das Licht ist grell. Ich kann eine Neonröhre an der niedrigen Decke sehen und parallel dazu zwei Metallstangen. Die Wände sind auf beiden Seiten ganz nah, und sie sind hart, aus glänzendem Metall und Plexiglas. Ich kann Schubladen und Regale erkennen, voll mit Flaschen und Packungen, und ich sehe blinkende Apparate. Alles bewegt sich, ganz leicht, vibriert, auch, wie mir klarwird, das Bett, in dem ich liege.
    Das Gesicht eines Mannes taucht von irgendwo hinter mir auf, über meinem Kopf. Er trägt ein grünes Hemd. Ich erkenne ihn nicht.
    »Sie ist wach, Leute«, sagte er, und dann tauchen noch mehr Gesichter auf. Ich lasse rasch den Blick über sie schweifen. Mike ist nicht dabei, und ich werde etwas ruhiger.
    »Christine«, sagt eine Stimme. »Chrissy. Ich bin’s.« Es ist eine Frauenstimme, eine, die ich erkenne. »Wir sind auf dem Weg ins Krankenhaus. Du hast dir das Schlüsselbein gebrochen, aber du wirst wieder gesund. Alles wird gut. Er ist tot. Mike ist tot. Er kann dir nichts mehr tun.«
    Dann sehe ich die Frau, die spricht. Sie lächelt und hält meine Hand. Es ist Claire. Dieselbe Claire, die ich erst kürzlich gesehen habe, nicht die junge Claire, mit
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