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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich
Autoren: Penny Hancock
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wäre es mit einem Pint, wenn ich Sie das nächste Mal im Anchor sehe?«
    »Wie, ist das alles? Sie sind aber eine harte Nuss, Sonia.«
    »Kommen Sie schon, Matt. Sie ist doch nur ein Kind und macht eine Hausaufgabe über ungewöhnliche Gebäude. Sieht sie etwa wie eine Terroristin aus?«
    »Man soll nie nach dem Äußeren gehen, das bringen sie uns im Sicherheitstraining bei«, sagt er, dabei hat er Alicia nicht einmal angesehen. Er blickt mir in die Augen. »Ich will wenigstens ein Lächeln von Ihnen. Gehen Sie zum Haupteingang, ich bringe Ihnen Schutzhelme. Aber Sie dürfen keinem was davon erzählen. Wenn das rauskommt, stecke ich richtig in der Scheiße.«
    Ich betrete das Kraftwerk vor dem Mädchen, dessen mit Lipgloss verschmierter Mund an Jez’ Hals gesaugt hat. Auf die Wirkung, die dieser Ort auf mich ausübt, bin ich nicht gefasst.

K APITEL S ECHSUNDDREISSIG
    Dienstag
    Sonia
    Die hohen Mauern des Kraftwerks und seine vier wuchtigen Ziegelschlote waren die marode Kulisse meines Lebens, seit ich denken kann. Aber betreten habe ich es seit Jahren nicht mehr. Ich folge Matt und Alicia durch das Foyer in das dunkle Herzstück des Kraftwerks und blicke zu den hohen Decken auf. Es ist erstaunlich, dass sich Menschen einen geschlossenen Raum von solchen Ausmaßen vorstellen und dann bauen konnten. Mit den weißen Kacheln vom Boden bis zur Decke formt dieser Teil des Gebäudes ein riesiges Keramikgewölbe. Dagegen wirkt die Tate Modern winzig. Wir gehen eine steile, vibrierende Treppe hinauf und über Metallbühnen, die unter unseren Füßen schwingen. Vorbei an hoch aufragenden, schwarzen Gehäusen, die riesige Turbinen beherbergen, wie Matt uns erklärt. Hoch über uns baumeln Krallen von Kränen herab.
    »Na schön, ich gehe mal lieber runter«, sagt Matt. »Sie haben eine Viertelstunde, dann komme ich Sie abholen. Wenn jemand fragt, warum Sie hier sind, rufen Sie mich, dann übernehme ich das Reden. In Ordnung?«
    Das Kraftwerk gleicht einer unerforschten Kammer meines Verstandes. In letzter Zeit bekomme ich Angst vor dem, was ich in Winkeln von mir entdecke, von denen ich nicht einmal etwas wusste. Etwa davor, welche Leidenschaft Jez in mir auslöst. Am anderen Ende des Spektrums habe ich neue Gipfel der Wut entdeckt. Und diese extremen Gefühle führen mich zu noch größeren, weitläufigeren Kammern. Zum ersten Mal lasse ich zu, dass ich mich daran berausche, für Jez getötet zu haben. Trunken vor Euphorie bleibe ich einen Moment stehen. Ich bin so fest entschlossen, ihn bei mir zu behalten, dass mich eine heftige, düstere Abscheu gegen Alicia erfüllt. Ich muss mich an einem Geländer festhalten und warten, bis dieses Schwindelgefühl nachlässt.
    Nach unserem Rundgang setzt sich Alicia verzweifelt auf die oberste Stufe einer Treppe. Sie legt die Arme um die Knie und runzelt die Stirn.
    »Können wir rausgehen? Auf den Teil, den man vom Weg aus sieht?«, fragt sie.
    »Warum das denn?«
    Sie zuckt mit den Schultern.
    »Da hat man einen guten Ausblick.«
    Den hat man da allerdings. Auf den Fluss, aber auch auf mein Haus. Sie weiß mehr, als sie zugibt. Sie will in das Musikzimmer sehen.
    Alicia starrt auf den Betonboden in schwindelerregender Tiefe. Matt und die anderen Facharbeiter, die alle Maschinen am Laufen halten, sind nirgends zu sehen. Ein Mädchen könnte leicht sterben, wenn es herunterfällt. Ich würde Alarm schlagen, die Wachleute würden angelaufen kommen, und ich wäre entsetzt. Sie wäre vor meinen Augen gestürzt, vielleicht hätte sie sich den Kopf an dem eisernen Treppengelände angestoßen, als sie sich im Fallen überschlagen hat, und wäre beim Aufprall so gut wie tot gewesen.
    Dann zeigt sich ein anderes Bild.
    Ich habe sie von unten gesehen. An einem schwülen Septembertag. Die Flut spülte Abfall gegen die Mauern, Eisstiele, Kondome, Chipstüten, eine Babypuppe. Ich war gerade auf dem Heimweg von der Schule. Meine Tasche mit schweren Büchern schlug mir schmerzhaft gegen den Oberschenkel, der Tragegurt schnitt in meine Schulter. Irgendwer hatte mich wieder geärgert, hatte mich irre genannt, eine Missgeburt. Und ich wollte nicht nach Hause gehen, weil ich wusste, dass mein Vater dort war.
    Die Schatten der Geländerstäbe zogen Streifen über den gepflasterten Weg. Ich lief vorsichtig zwischen ihnen her, denn wenn ich auf einen trat, würde ich Seb für immer verlieren. Erst kurz vor dem Kraftwerk und im größeren, kompakten Schatten des Kohlenanlegers blickte ich auf, und die
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