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Icarus

Icarus

Titel: Icarus
Autoren: Russell Andrews
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Dann wurde ihm klar, was Jack getan hatte. Ihm wurde klar, daß seine erstaunliche Kraft ihn töten würde.
    Der Schwung der Hantel ließ Bryan schwanken. Er beugte sich nach hinten, weit nach hinten, zuerst den Kopf, dann den Hals und die Schultern, dann die Beine.
    Er konnte das Gleichgewicht nicht halten. Er konnte die Rückwärtsbewegung nicht stoppen. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Das war nicht recht. Er war so nahe. Er war so clever gewesen. Es war ein so guter Plan.
    Bryans lädiertes Knie gab jetzt nach, und er konnte sich nicht länger auf den Füßen halten.
    Jack sah, wie ein Fuß sich nach hinten bewegte und nichts fand als Luft. Bryans Augen weiteten sich. Dann ging sein anderer Fuß nach hinten. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber kein Laut drang heraus.
    Und dann verschwand er.
    Jack vergeudete keine Zeit. Er sprang auf die Mauer und bewegte sich vorsichtig, aber schnell, einen Schritt nach dem anderen, vorwärts. Er gelangte fast bis zum benachbarten Dach, hielt an und bückte sich. Er setzte sich rittlings auf die Mauer, streckte seinen Arm hinunter und sagte: »Nimm meine Hand.« Als Grace sich nicht rührte, sich nicht rühren konnte, wiederholte er es, sehr ruhig. »Nimm meine Hand«, sagte er. »Ich lasse dich nicht fallen.«
    Er sah, wie sie die Augen schloß, sah ihre gebrochene Hand zu ihm hochkommen. Als er sie faßte, hörte er ihren schmerzerfüllten Seufzer, aber er hatte sie und ließ sie nicht mehr los. Sie streckte die andere Hand nach oben, und er ergriff auch diese und zog sie langsam hoch, hatte Mühe, die Balance zu halten, aber jetzt würde nichts Schlimmes mehr passieren, das wußte er, das war jetzt der einfache Teil, und dann saßen sie beide auf der Mauer. Er achtete nicht auf die Straße tief unten. Sein Kopf war klar, und er erkannte, daß der Abgrund seine Macht verloren hatte, ihn zu rufen, ihn zu packen und hinabzuziehen. Er war stärker. Jetzt war er stärker als alles.
    Noch immer Graces Hand haltend, half er ihr beim Aufstehen, und langsam gingen sie zur Terrasse zurück.
    Jack spürte jetzt die Wärme der Sonne. Und wieder hörte er den Verkehrslärm von tief unten.
    Er verfolgte, wie sie auf die Terrasse kletterte. Dann folgte er ihr. Sie umarmten einander, ihr Gesicht lag an seiner Brust, und er streichelte ihr Haar und sagte ihr, daß sie in Sicherheit war. Daß sie gewonnen hatten.
    Jack Keller hielt sie fest und versicherte ihr, daß es endlich nichts mehr gab, wovor sie sich fürchten mußten.

BUCH FÜNF

    Nach dem Fall
    EINE WOCHE SPÄTER

Einundfünfzig
    Nachdem er die Fragen der Polizei und den außergewöhnlichen Medienrummel – Schlagzeilen und Titelstorys in jeder Zeitung, Fernsehkameras vor dem Eingang zu seinem Apartmenthaus, Angebote für ein Buch über seine Erlebnisse von drei Verlagen und Anrufe von zwei Agenten und die Anfrage eines Fernsehsenders, ob er Interesse an einem Fernsehfilm über sein Leben habe – hinter sich gebracht hatte, fuhr Jack mit einem Taxi zur Südspitze von Manhattan, bestieg die Staten-Island-Fähre und ließ sich zu Kids Grab bringen.
    Grace hatte ihn gefragt, ob sie ihn begleiten dürfe, und er hatte eingewilligt. Sie sprachen nicht während derÜberfahrt, beide standen sie auf dem Oberdeck, betrachteten die Wellen und ließen sich von der kühlen Gischt die Gesichter benetzen. Irgendwann berührten ihre Finger einander, verschränkten sich, und sie hielten sich bei den Händen. Bis sie am anderen Ufer anlegten.
    Jack hatte keine Vorstellung, was dieser Ausflug bewirken sollte, aber er hatte das Gefühl, daß er nötig war. Während er auf den schlichten Grabstein mit der Inschrift »George ›Kid‹ Demeter« blickte, dachte er an Doms Bemerkung, sie wären auf zu vielen Beerdigungen gewesen. Und er dachte an Kids Feststellung, daß in seiner Welt jeder ein Alias-Typ war. Jeder wollte jemand anders sein. Jeder gab vor, das zu sein, was er nicht war. Jeder war zornig und versuchte aus seiner eigenen Haut zu schlüpfen, um irgendeinem flüchtigen Ziel nachzustreben, das einfache Antworten liefern und einem zum größten Preis von allen verhelfen sollte: Glückseligkeit.
    Den Kopf gesenkt, dachte Jack an Caroline. Er würde niemals erfahren, was sich wirklich zwischen ihr und Kid abgespielt hatte. Aber er erkannte, daß es ihn eigentlich nicht mehr interessierte. Er wußte alles, was er wissen mußte. Und was immer sie miteinander getan hatten, er verzieh ihr. Letztendlich hatte sie versucht, Kid zu helfen.
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