Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Icarus

Icarus

Titel: Icarus
Autoren: Russell Andrews
Vom Netzwerk:
Bryan hatte sicher wieder zugestoßen, denn sein Bein fühlte sich an, als stünde es in Flammen, doch dann war er drüben, krachte auf den Terrassenboden, rollte bis gegen den Gußeisentisch. Dann war er wieder auf den Beinen.
    Bryan hatte das Gleichgewicht zurückgewonnen. Er war jetzt auf den Knien, noch immer einen halben Meter vom Rand entfernt. Er bewegte sich langsam, vorsichtig, darauf bedacht, keine falsche Bewegung zu machen. Er stand jetzt, und als er Jack ansah, zeigte sein Gesicht einen Ausdruck mörderischer Wut. Jack wußte, Bryan glaubte, er würde fliehen, erwartete, daß Jack zur Wohnungstür rannte und zur Treppe, auf jeden Fall versuchen würde, aus dem Apartment zu verschwinden. Aber das war nicht Jacks Absicht. Er fluchtete nicht. Er würde Grace nicht im Stich lassen. Diesmal gab es kein »Was wäre, wenn …« Diesmal würde niemand sterben.
    Nein. Jack wußte, daß das nicht stimmte. Einer würde …
    Ihre Blicke trafen sich, und jetzt schien Bryan derjenige zu sein, der gelähmt war. Gebannt beobachtete er, daß Jack keinerlei Anstalten machte wegzurennen, sondern einfach dastand und seinen Blick erwiderte. Bryan lächelte, weil Jack auf ihn wartete. Er wollte es mit ihm ausfechten in einem Kampf Mann gegen Mann, und indem er sich vergewisserte, daß er das Messer fest und sicher in der Hand hielt, machte er einen weiteren Schritt vorwärts …
    Jack machte ebenfalls einen Schritt. Er ging zu der Langhantel, die auf der Terrasse inmitten der Trainingsgeräte lag.
    Das nennt man Stoßen, hatte Kid gesagt. Die schwierigste Gewichthebeübung, die es gibt.
    Jack bückte sich.
    Das einzige, was dich behindert, ist Angst. Er konnte hören, wie Kid ihn anfeuerte. Du bist stark genug, um dich von der Angst zu befreien. Du bist jetzt stark genug. In diesem Moment.
    Jack betrachtete die Gewichte an den Enden der Hantelstange.
    Frag nicht, wie schwer die Hantel ist, Jack, es ist unwichtig.
    Er packte die Stange, die Hände schulterbreit voneinander entfernt.
    Du bist stark genug. In diesem Moment.
    Er hob das Gewicht bis in Taillenhöhe.
    Er beugte die Knie, atmete ein, griff plötzlich um, und dann schwebte das Gewicht über seinem Kopf.
    Du bist der entfesselte Herkules.
    Seine Beine wackelten, blieben aber gestreckt. Seine Arme waren leicht gebeugt.
    Er erinnerte sich an die Schmerzen. Als er im Krankenhaus gelegen hatte und sich völlig zerbrochen fühlte. Als er begriffen hatte, daß Caroline nicht mehr bei ihm war, daß er sie nie wiedersehen oder berühren würde. Er erinnerte sich, wie er im Rollstuhl gesessen hatte, verkrüppelt, und an die Qual und die Angst, die sich mit seinem Kampf einstellten, wieder ein vollwertiger Mensch zu werden. Er erinnerte sich daran, wie Kid ihm erklärt hatte, er wolle nicht nur, daß er wieder seinen normalen Zustand erreichte, sondern daß er am Ende besser wäre als normal. Er erinnerte sich an die Freude, sein Korsett abzulegen und wieder schmerzfrei zu sein. Er erinnerte sich an den leblosen Körper der Entertainerin in der Badewanne und an den Ausdruck nackten Entsetzens auf Samsonites Gesicht, an ihren zerfetzten Hals nur wenige Zentimeter neben ihm. Er spürte McCoys Körper, wie er aus dem Schrank auf ihn kippte, und er sah Dom vor sich, seinen geliebten Dom, der von einem Wahnsinnigen zu Tode gemetzelt wurde, der nicht den Unterschied zwischen Liebe und Haß oder Leben und Tod kannte. Er hörte die Schüsse im Büro in Charlottesville. Spürte, wie sein Leben davongesickert war. Hörte, wie der Arzt ihm erklärt hatte, daß Caroline ihn nie mehr besuchen würde. Caroline war tot. Und nun sah er ihren Mörder an! Jack erinnerte sich daran, wie er mit der Hand Graces Körper gestreichelt und wie sie sich im Dunkeln geliebt hatten.
    Jack Keller blickte in die Augen des Wahnsinnigen, der auf der Mauer stand, ihn verwirrt musterte und darauf wartete, was er tun würde.
    Du bist stark genug, sagte er sich.
    In diesem Moment.
    »Bryan«, sagte Jack. »Fang.«
    Seine Knie beugten sich, verliehen ihm die Hebelwirkung, die er brauchte, dann streckten sie sich ruckartig. Gleichzeitig stieß Jack die zweihundert Pfund Gewicht in die Luft und in Bryan Bishops Richtung. Bryans Hände schossen vor, und seine Finger legten sich um die Hantelstange, ehe sie ihn traf. Er fing sie auf, zog sie an seinen Körper heran und sah Jack an. Dabei schlich ein knappes Lächeln um seine Lippen, während er darauf wartete, daß Jack seine Bewunderung über soviel Kraft äußerte.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher