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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Autoren: Hansjörg Schneider
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immer noch kichernd, zu Boden sackte. Das Mädchen, das ihn geschoben hatte, stöhnte auf und fing an, hemmungslos zu schluchzen. Sie nestelte an einer Tasche herum, die ihr über die Schulter hing – hellbraunes, feines Wildleder, das sah er genau –, sie zog eine halbe Baguette heraus, teilte sie schwesterlich in zwei handlange Stücke, und gemeinsam aßen die beiden, immer noch schluchzend, weißes, knuspriges Brot.
    Hunkeler schaute zu. Er musste sich erst beruhigen.
    »Hört einmal«, sagte er, »ich entschuldige mich.«
    Er verbeugte sich leicht, es war nur eine Andeutung einer Verbeugung.
    »Ich weiß«, sprach er, »es gibt viele Unfreundlichkeiten.« Er suchte mühsam die Wörter zusammen. »Viele Verletzungen, viele Verbrechen. Trotzdem beharre ich darauf, dass Gnade die einzige Form von Gerechtigkeit ist, die wirklich hilft. Sie verstehen mich nicht, nicht wahr?«
    Sie schauten ihn hilflos an, sie hatten ihn nicht begriffen.
    »Jetzt schlage ich vor«, sagte er, »dass wir zusammen ein Bier trinken gehen im Café Atlas.«
    Sie waren sogleich bereit mitzukommen. Sie erhoben sich brav und gesittet, ordneten die Kleider, kämmten sich, zwei zarte, verletzte Vögel.
    Sie kamen beide aus Straßburg und konnten gut Deutsch. Als sie durch die Rue des Arts gingen, erklärte er ihnen, dass diese Straße ursprünglich Rue des Arcs geheißen habe, da hier die Bogenschützen gewohnt hätten. Das habe ihm Claude erzählt, sein älterer Freund, ein Antiquar und Junggeselle, der ihm damals geholfen habe, als er in ihrem Alter gewesen und in diesen engen Gassen herumgelungert sei. Aber von einer Vergewaltigung habe er damals nie etwas gehört, sie seien immer anständig gewesen miteinander, Burschen und Mädchen, so gut das eben gegangen sei.
    Er redete und redete, pausenlos, nur keine Stille jetzt, er fühlte sich tatsächlich mitschuldig. Dieser Stengel vor dem nackten Frauenschoß, dieses Kichern der jungen Frau, ihr aufgerissener Mund. Sein eigenes Erschrecken, seine Angst erst. Seine plötzliche Feigheit, die ihn erstaunt hatte. Dann sein Jähzorn, er wäre bereit gewesen, mit der Faust hineinzufahren in dieses ekelhafte Männergesicht. Das Erschlaffen der jungen Frau endlich, ihr Zusammensacken, wie ein Stück Wäsche. Einfach so war das geschehen, ohne irgendeine Ankündigung, ganz alltäglich. Und erst jetzt fiel ihm die Stille auf, die geherrscht hatte, die Wortlosigkeit, unterbrochen nur durch das hysterische Gekicher der Frau. Bis dann sein Schreien von den Wänden zurückgeworfen worden war.
    Die beiden Mädchen marschierten wacker mit, ganz so, als wäre nichts Besonderes vorgefallen. Sie hörten ihm interessiert zu, warum, wusste er nicht. Als sie den Carrefour de Buci erreichten, blieb er stehen und zeigte hinauf zu den Dächern.
    »Dort war ein Hotel damals«, sagte er, »das Hotel de Dieppe. Dort oben habe ich gewohnt in einer Mansarde, direkt unter dem Dach.«
    Sie schauten angestrengt hinauf, als ob sich dort oben eine Sehenswürdigkeit befunden hätte.
    »Da vorne«, sagte die kleinere der beiden, »gibt es einen schönen Blumenladen. Wir kennen uns hier aus. Wir wohnen nämlich gleich um die Ecke. Im Louisiane.«
    »Ach so?«, sagte er. »Ist das nicht das Hotel mit dem Fischstand vor der Haustür?«
    »Ja«, sagte die andere, »dort liegen schöne Fische. Und die Krebse wollen immer fortkrabbeln. Aber sie können nicht, die Frau packt sie immer wieder und legt sie ins Becken zurück. Das ist doch Tierquälerei.«
    Hunkeler zuckte mit den Achseln. Er wäre gerne mitgegangen.
    »Also denn«, sagte die Kleinere, und sie versuchte, freundlich zu lächeln, »auf Wiedersehen, Monsieur. Und vielen Dank für die Begleitung. Es war sehr nett von Ihnen.«
    »Halt«, sagte Hunkeler, »so geht das nicht. Sie haben mit Sicherheit einen Schock erlitten. Wir müssen darüber reden.«
    »Über was wollen Sie reden? Das ist nicht nötig. Wir werden schon allein fertig damit. Es ist ja nichts geschehen.« Sie lächelte jetzt richtig, und er schaute ihnen zu, wie sie über den Platz gingen. Beim Blumenladen blieben sie stehen und bestaunten einen meterhohen Strauß roter Gladiolen. Dann drehten sie sich kurz um, und beide winkten.
    Er setzte sich ins Café Atlas und bestellte einen Marc de Bourgogne, en ver de Cognac. Als er sich eine Zigarette anzündete, bemerkte er, wie die Hand mit dem Streichholz zitterte. Er schnüffelte am Schnaps, den ihm der alte Kellner aufs Tischchen geknallt hatte mit gekonnter,
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