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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung
Autoren: Lois Lowry
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um die Ecke wohnt. Sie ist ein Zehner, du weißt ja. Sie hat ein
     paar ihrer Praktikumsstunden im Gebärzentrum verbracht. Und sie sagte mir, dass die Gebärerinnen wunderbares Essen bekommen,
     fast nichts tun müssen und sich die meiste Zeit nur amüsieren und spielen, während sie warten. Ich glaube, das würde mir auch
     gefallen«, erklärte Lily trotzig.
    »Drei Jahre lang«, sagte Mutter in strengem Ton. »Drei Geburten und das war’s dann. Danach sind sie für den Rest ihres Erwachsenenlebens
     Arbeiterinnen, bis sie schließlich ins Altenzentrum kommen. Willst du das wirklich, Lily? Drei schöne Jahre und danach harte
     körperliche Arbeit, bis ins hohe Alter?«
    »Hmm, nein, eigentlich doch nicht«, gab Lily etwas widerwillig zu.
    Vater drehte den Säugling auf den Bauch. Er setzte sich neben den Korb und begann, rhythmisch über den Rücken des Kleinen
     zu streicheln. »Und vergiss nicht, Lily-Billy«, sagte er zärtlich, »die Gebärerinnen bekommen die Neugeborenen nie zu sehen.
     Wenn du Säuglinge magst, solltest du darauf hoffen, Säuglingspflegerin zu werden.«
    »Wenn du ein Achter bist und mit deinen Praktikumsstunden beginnst, kannst du dich ja mal im Säuglingszentrum umsehen«, schlug
     Mutter vor.
    »O ja, ich glaube, das werde ich tun«, sagte Lily. Sie kniete sich neben das Körbchen. »Wie sagtest du, heißt er? Gabriel?
     Hallo, Gabriel«, säuselte sie. Dann kicherte sie. »Oh«, flüsterte sie, »ich glaube, er ist eingeschlafen. Dann bin ich jetzt
     wohl besser still.«
    Jonas widmete sich wieder seinen Schulaufgaben. Was für ein unverhofftes Glück, dachte er. Lily war normalerweise nie still.
     Sie sollte hoffen, zur Sprecherin ernannt zu werden, denn dann könnte sie den ganzen Tag in ihrem Büro am Mikrofon sitzen
     und Durchsagen machen. Jonas lachte leise in sich hinein, als er sich vorstellte, wie seine Schwester in dem wichtigtuerischen
     Tonfall, den alle Sprecher mit der Zeit zu bekommen schienen, Dinge sagte wie: ACHTUNG! EINE ERMAHNUNG AN ALLE MÄDCHEN UNTER
     NEUN! DENKT DARAN, DASS HAARBÄNDER GRUNDSÄTZLICH ORDENTLICH GEBUNDEN SEIN MÜSSEN.
    Er wandte den Kopf und registrierte mit innererGenugtuung, dass die Haarbänder seiner Schwester wie üblich schief hingen. Er war sich sicher, dass bald eine derartige Durchsage
     kommen würde, nur für Lily, obwohl ihr Name natürlich nicht genannt werden würde. Aber jeder würde wissen, wer gemeint war.
    Beschämt erinnerte sich Jonas an eine Durchsage, die direkt an ihn gerichtet gewesen war, letzten Monat, als er den Apfel
     mit nach Hause genommen hatte. ACHTUNG! EINE DURCHSAGE AN ALLE ELFER: ES IST NICHT ERLAUBT, GEGENSTÄNDE VOM SPIELPLATZ MITZUNEHMEN.   EIN DORT SERVIERTER IMBISS IST ZUM ESSEN BESTIMMT, NICHT ZUM HORTEN.   Niemand hatte ihn darauf angesprochen, auch seine Eltern nicht. Denn die öffentliche Durchsage hatte ohnehin schon genügend
     Gewissensbisse in ihm erzeugt. Selbstverständlich hatte er sich so schnell wie möglich des Apfels entledigt und sich am nächsten
     Morgen vor dem Unterricht beim Direktor für Spiel und Sport entschuldigt.
    Jonas dachte noch einmal über diesen Zwischenfall nach. Er war noch immer bestürzt. Nicht wegen der Durchsage oder der unvermeidlichen
     Entschuldigung – das waren alltägliche Dinge und er hatte es verdient   –, sondern wegen des Zwischenfalls selbst. Wahrscheinlich hätte er diese Bestürzung ansprechen sollen, noch am gleichen Abend,
     als er mit seiner Familie die übliche Gefühlsaussprache machte. Aber es war ihm nicht möglich gewesen, die Ursache seinerVerwirrung herauszufinden und in Worte zu fassen, sodass er es lieber verschwieg.
    Er hatte an jenem Tag während der Pause mit Asher gespielt. Jonas hatte einen Apfel aus dem Korb geholt, in dem die Imbisse
     aufbewahrt wurden, und ihn seinem Freund zugeworfen. Asher warf ihn zurück und so war es zu einem ausgelassenen Fangspiel
     gekommen.
    Daran war absolut nichts Besonderes. Sie hatten es schon unzählige Male gespielt. Fangen – werfen – fangen – werfen. Jonas
     bereitete es keine Mühe, er fand es sogar langweilig, aber Asher liebte es. Und Fangspiele waren für ihn eine Pflichtübung,
     denn er sollte seine Hand-Augen-Koordination trainieren, da sie noch nicht den altersüblichen Anforderungen entsprach.
    Doch als Jonas die Flugbahn des Apfels verfolgte, fiel ihm plötzlich auf, dass der Apfel – nun, das war der Teil der Geschichte,
     den er einfach nicht begriff   –, dass der Apfel
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