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Hotel van Gogh

Hotel van Gogh

Titel: Hotel van Gogh
Autoren: J.R. Bechtle
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in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen will! Wir sollten die Presse aus der Sache heraushalten. Wann können wir Sie erwarten, Frau Bucher, heute am Nachmittag?«
    »Das trifft mich völlig unvorbereitet. Wie komme ich überhaupt dorthin, mit dem Zug oder Flugzeug? In der Nähe von Paris, sagten Sie?«
    Wenn Sabine Bucher eine Verpflichtung ihrem Onkel gegenüber verspürt, dann allenfalls eine anwaltliche. Aber ihr ist klar, dass sie sich der Angelegenheit annehmen muss.
    Drei Stunden später sitzt sie im Flugzeug nach Paris. Den Weiterflug von Paris hat sie gleich nach Hamburg gebucht. Sollte alles nach Plan verlaufen, wird sie bis zum Abend auf Sylt sein. Eine Woche Urlaub, viel ist das sowieso nicht, da zählt jeder Tag. Überhaupt ist sie gewohnt, selbst über ihr Leben zu bestimmen und sich nichts von anderen vorschreiben zu lassen. Ihrer Selbständigkeit willen ist sie unverheiratet und kinderlos geblieben. Aber damit ist sie zufrieden. Den Urlaub auf Sylt verbringt sie mit Peter, einem englischen Investmentbanker, mit dem sie seit Jahren befreundet ist. Er leitet in Frankfurt das M&A-Geschäft einer Großbank. Hin und wieder übernachtet er bei ihr, aber ihre Unabhängigkeit würde sie für ihn nicht opfern. Und Peter ebenso wenig die seine.
    Sie freut sich auf das Meer. Dabei genügt ihr die eine Woche, zu viel Natur hat sie seit je beunruhigt. Sie ist ein Großstadtmensch, in Frankfurt aufgewachsen und hat dort immer gelebt. Vor die Wahl zwischen Glastürmen und Bäumen gestellt, würde sie sich, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, für die Hochhäuser entscheiden. Vor einigen Monaten hat sie in großem Stil ihren Vierzigsten gefeiert. Erfolgreich, unabhängig und mit einem breitgefächerten Freundeskreis, sie würde mit niemandem tauschen.
    Sabine ist als Einzelkind aufgewachsen, was in gewisser Weise ihre Lebenseinstellung geprägt hat. Vor einigen Jahren hat sie beide Eltern kurz hintereinander durch Krebs verloren. Arthur Heller, der um viele Jahre jüngere Bruder ihrer Mutter, der Nachzügler, wie ihn ihre Mutter gelegentlich nannte, ist tatsächlich ihr nächster Verwandter. Auch er blieb kinderlos. Nach seiner Scheidung trieb er wie von einer Welle mitgerissen von der Familie fort.
    Wir beide sind Einzelgänger, Arthur Heller und ich. Ihr Onkel muss dieses Band zwischen ihnen ebenfalls gespürt haben. Warum sonst hätte er ihre Adresse nach all den Jahren bei sich getragen?
    Ob ihr Onkel glücklich war? Selbstmord steht am Ende einer langen Kette von Enttäuschungen. Hierin zeigt sich die verwundbare Seite des Einzelgängers, dem ein Mensch fehlt, dem er sich anvertrauen und der ihm doch noch einen Weg aus der Ausweglosigkeit weisen könnte.
    Arthur Heller war nach Paris gegangen, um dort losgelöst von allem einen Roman zu schreiben. Mit dem Selbstmord erklärt sich, was daraus geworden ist.
    Niemand konnte sich damals einen Reim auf seine Entscheidung machen, obwohl er seine Umgebung stets vorgewarnt hatte, er werde mit vierzig als Unternehmer alles hinschmeißen, um nur noch Bücher zu schreiben. Er war achtundvierzig, als er schließlich diesen Schritt wagte.
    Er hatte Ingenieurwissenschaften studiert und sich frühzeitig auf Elektronik spezialisiert. Kaum dreißig, gründete er in Heidelberg eine Sensorikfirma, die er zum weltweiten Marktführer für Näherungsschalter aufbaute, Sensoren, die man im Produktionsbereich zur Messung von Temperaturen und Entfernungen einsetzt. Die technischen Details hatte Sabine allerdings nie verstanden.
    Von einem Tag auf den anderen hatte Arthur Heller damals zum Erstaunen aller die Firma an Siemens verkauft. Finanziell brauchte er sich danach keine Sorgen mehr zu machen, obwohl seiner Frau bei der Scheidung, die fast zeitgleich erfolgte, ein erheblicher Teil des Verkaufserlöses zufiel. Niemand war von der Scheidung überrascht. Arthur Hellers Frau lebte am Ende dieser Ehe bereits ein Leben ohne ihn, im Winter in Kitzbühel und im Sommer in Antibes, in einer Glamour-Welt, der er nichts abgewinnen konnte. Von seiner Frau hatte Sabine nach der Scheidung nie mehr etwas gehört, es würde sie nicht überraschen, wenn auch ihr Onkel jeden Kontakt zu ihr verloren hätte.
    Beim Flug fällt Sabine Buchers Blick auf die sonnendurchflutete Landschaft unter ihr. Mitte Juni, die ideale Jahreszeit für Paris, allerdings nicht, wenn man wegen des Selbstmordes eines Verwandten hierher beordert wird. Dieser Formalismus, als ob die Polizei das nicht ohne sie
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