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Holst, Evelyn

Holst, Evelyn

Titel: Holst, Evelyn
Autoren: Der Liebesunfall
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sich fast wie früher, leicht, jung, fröhlich, so als läge das Leben in all seinen Möglichkeiten noch vor ihm, doch diese Augenblicke waren kurz, denn es genügte eine Winzigkeit, ein Kinderlachen, eine Erinnerung, der Geruch nach Milch und Marzipan und der Schmerz kam mit einer Wucht zurück, die ihm fast die Luft abschnürte. In so einem Moment hatte er kürzlich an seinem Bürofenster gestanden und eine Sekunde überlegt, wie einfach es wäre, wenn er sich einfach fallenlassen würde. Alles, alles hätte er darum gegeben, wenn er an diesem verfluchten Tag nicht ..., aber er wusste, es gab kein Zurück mehr. Das Leben musste weitergehen, irgendwie. Auch ohne sie. Ohne das Schönste und Liebste, das er je besessen hatte. Denn sie würde nie wieder zu ihm zurückkehren. Nie wieder.
    So sehr war er in seine trüben Gedanken versunken, dass er fast die rote Ampel überfahren hätte, schon halb auf der Straße stand, wenn nicht das wütende Hupen der anderen Autofahrer und das melodische Klingeln seiner Freisprechanlage ihn rechtzeitig in die Gegenwart zurückgerissen hätten. „Ja?“, fragte er ungeduldig, ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. „Was für ein Termin? Nein, meine Frau hat mich nicht informiert. Heute ist es sowieso unmöglich, ich bin total ausgebucht. Ja, wir melden uns.“
    Er schob eine CD in den Spieler und seufzte tief. „Wut über einen verlorenen Groschen“ perlte aus den Lautsprechern, ein kleines Stück von Wolfgang Amadeus Mozart, das er liebte, seit er als Anfänger vor über dreißig Jahren seine Klavierlehrerin Nathalie damit fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Doch diesmal verfehlten die fröhlich klimpernden Töne ihre aufmunternde Wirkung. Der Anrufer war ihr Gynäkologe Dr. Helmut Sörensen gewesen. Sie hatte es also immer noch nicht aufgegeben. Er konnte es ihr nicht übel nehmen, auch sie hatte ja ein Recht auf Glück. Aber ein Termin beim Arzt war das Letzte, worauf er Lust hatte. Doch wie tief steckte er in ihrer Schuld?
    Er hielt vor dem großen Bürokomplex, in dem seine Produktionsfirma die beiden oberen Etagen hatte und parkte. Auf dem Weg zum Fahrstuhl griff er wieder nach seinem Handy. „Ja, ich bin’s. Dein Frauenarzt hat angerufen, ich war etwas überrascht. Hat sich bereits erledigt? Ich verstehe nicht. Das muss ich auch nicht? Gut, wenn du meinst. Das wirst du mir heute Abend erklären, ja, solange kann ich warten. Nein, das war kein Sarkasmus. Im Drei Tageszeiten? Ist gut, bis dann.“
    Er steckte sein Handy in die Hosentasche und betrat den Fahrstuhl, drückte das 7. Stockwerk und war erleichtert, dass sie offensichtlich ihre Meinung wieder geändert hatte.
    Und dann begann sein Tag.
    „Bis heute Abend“, Marion von Lehsten legte den Hörer auf und ging ins angrenzende Badezimmer, wo das wohltemperierte Wasser bereits den oberen Wannenrand erreicht hatte. Sie legte eine Tablette mit Fichtenduft hinein und stellte den Wasserhahn ab, bevor sie hinein stieg. Sie badete jeden Morgen, mindestens eine Stunde lang, ohne dieses Ritual war sie unfähig, den Tag zu beginnen. Denn nur in der allerersten Sekunde nach dem Aufwachen umfing sie eine trügerische Leichtigkeit, das Leben ist gut, dachte sie dann schlaftrunken, es geht mir gut, ich kann aufstehen und den Tag beginnen – aber diese Sekunde verging und die Gewissheit, dass nichts mehr sein würde wie früher, legte sich auf ihr Herz wie ein bleiernes Gewicht. In diesen Momenten konnte sie nichts aushalten, das Morgenlicht hinter ihren schweren, samtigen Vorhängen nicht, die leise Stimme ihrer Haushälterin Uschi nicht, die deshalb wortlos das Tablett mit dem Frühstück – eine Tasse grüner Tee und ein Vollkorntoast mit Butter und Honig – abstellte und lautlos wieder verschwand. Sie konnte dann nur ins duftende Schaumbad steigen wie in einen tröstlichen Mutterleib und darauf warten, dass sich die lähmende Traurigkeit in ihr langsam etwas auflöste. Oft wartete sie vergebens, dann kroch sie in ihr Bett zurück und war nicht ansprechbar.
    Der Anruf ihres Mannes hatte sie aus ihren Gedanken geschreckt, in denen sie sonst versuchte, ihn so wenig wie möglich vorkommen zu lassen. Sie ertrug ihn immer weniger, aber sie wusste nicht, wie sie ihre Ehe beenden konnte, ohne ihn völlig zu zerstören. Deshalb hatte sie ihren Frauenarzt, zu dem sie großes Vertrauen hatte, um Vermittlung gebeten und sich dann doch anders entschieden. Sie musste es selbst tun, auch wenn es ihr schwer fiel. Denn obwohl sie sich
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