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Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)

Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)

Titel: Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)
Autoren: Jorge González
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Kindheit. Wir lebten und spielten sehr frei draußen in der Natur. Kein Mensch sperrte die Tür ab, wenn er das Haus verließ. Auch die Hautfarbe war kein Problem – selbst innerhalb der Familie gab es meist viele Schattierungen.
    Alle Kubaner waren auf den ersten Blick gleich. Ich lebte in einer Familie, die mich liebte, hatte ein Dach über dem Kopf und genug zu essen. Ich wuchs auf, ohne Neid zu kennen, denn es gab generell nicht viel. Außerdem konnte ich zur Schule gehen, ohne dass meine Eltern dafür bezahlen mussten, weil es die Ausbildung ebenso wie die medizinische Versorgung und die sportlichen Aktivitäten gratis gab. Natürlich war das alles sehr angenehm im sozialistischen Kuba, aber als Kind versteht man noch nicht, dass diese idealistische Welt auf Dauer nicht machbar ist.
    Mir war sehr früh klar, dass diese Idylle nicht der Realität entsprach, dass es doch einen Unterschied gab. Denn ich war ein Kind mit einem zweiten Ich. Und weil ich nicht so sein durfte, wie ich war, fing ich an, die Gesellschaft mit anderen Augen zu sehen. Ich fragte mich immer wieder: Was ist falsch an mir? Warum darf ich nicht sein, wie ich bin? Wieso redet mein Bruder so schlecht über die Homosexuellen? Warum wollen Eltern lieber einen Kriminellen als einen Homosexuellen als Sohn?
    Als Siebenjähriger hörte ich einmal auf dem Pausenhof einen Lehrer über eine Familie aus unserem Ort sagen: »Der eine Sohn sitzt im Gefängnis, der andere ist schwul. Die sind alle krank.« Danach dachte ich eine ganze Weile, ich müsste unbedingt zum Arzt gehen. Wann immer die Sprache auf die Ursachen von Geschlechtskrankheiten kam, waren die Schwulen die Schuldigen. Homosexualität war sogar noch schlimmer als der böse Feind aus den kapitalistischen Ländern. »Die gehören dorthin«, sagten die Leute immer, sobald die Rede auf Schwule kam.
    Wenn du das alles als homosexuelles Kind hörst, dann fühlst du dich verkehrt und fragst dich automatisch: Bin ich ein Mensch oder ein Monster?
    Millionen Male habe ich mich im Spiegel angeschaut und mich dabei mit anderen Jungs verglichen: »Ich habe zwei Hände und zwei Beine. Ich rede und lache wie sie und spreche die gleiche Sprache. Ich habe genau das Gleiche zwischen den Beinen wie sie. Ich habe eine Familie wie sie. Ich spiele mit ihnen. Ich gehe zur Schule, bin ein guter Schüler und ein netter Junge. Ich kann nicht mal einer Mücke was zuleide tun. Was habe ich an mir, das mich zu einem bösen kriminellen Menschen macht?«
    Dieses Gefühl, anders zu sein, schnürte mir manchmal die Luft zum Atmen ab. Auf der einen Seite war ich ein glückliches und geliebtes Kind, auf der anderen Seite musste ich mich immer kontrollieren. Sobald ich das Haus verließ, verknotete sich alles in mir. Dann achtete ich auf meine Bewegungen, meinen Gang, meine Sprache, mein Verhalten und meine Worte. Damals habe ich eine dicke Mauer um mich herum aufgebaut, die mich beschützte. Vielleicht bin ich deshalb so früh erwachsen geworden.
    Beim Tanzen und beim Spielen mit den High Heels wusste ich, dass ich okay war. Und trotzdem fühlte ich mich ganz tief in meinem Inneren verletzt. Jemand hatte mir einen Stempel verpasst, und ich wusste nicht, warum. Ich kam mir vor wie eine Marionette, aber das wollte ich nicht sein. Nein, ich gehöre nicht mehr zu diesem Theaterstück, begehrte eine Stimme in mir auf, ich will mein eigenes Stück spielen. Mir nicht mehr von einem Regisseur sagen lassen, welche Rolle ich zu übernehmen habe – ob sie nun zu mir passt oder nicht. Ich will mir meinen Part selbst aussuchen.
    Weil ich mich in meinem Körper gefangen fühlte und mein zweites Ich nicht zeigen durfte, habe ich mir als kleiner Junge eine Fantasiewelt geschaffen. Wenn ich allein war, stellte ich mir immer vor, ich sei ein Prinz. Ich stand vor dem Spiegel und sprach zu meinem Königreich. So wie ich das sonntagnachmittags in Filmen wie Die drei Musketiere oder Drei Haselnüsse für Aschenbrödel gesehen hatte. Da trugen die Männer – sogar der König – langhaarige Perücken, prächtige Kleider, Spitzen, Pumphosen, hohe Schuhe und Puder. Warum durften die das? Und ich nicht?
    Die drei Musketiere waren sogar Helden. Ich war fasziniert von der Zeit Ludwigs XIV. und lernte in der Schule fechten, weil ich so sein wollte wie D’Artagnan. Im Karneval verkleidete ich mich meist als Prinz und stand immer in der Nähe des hübschen japanischen Jungen mit den glänzenden, glatten Haaren. Tief drinnen fühlte ich mich dann manchmal
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