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Hörig (German Edition)

Hörig (German Edition)

Titel: Hörig (German Edition)
Autoren: Petra Hammesfahr
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Krücke hilflos war, die Treppe geräuschlos bewältigte.
    Aber Alwine Retling war sicher bereit, den Dicken mit Geschrei heraufzulocken. Wenn sie sich mit dem Messer hinter der Schlafzimmertür aufbaute, könnte sie sofort zustechen, wenn er hereinkam. Das würde sogar funktionieren, wenn er die Pistole dabeihatte. Müsste sie eben in seinen Rücken stechen. Und wenn man ihr anschließend Heimtücke vorwerfen sollte, auch egal. Hier ging es doch nicht um Fairness, nur ums Überleben.
    Endlich setzte sie sich in Bewegung, schlich langsam und mit angehaltenem Atem zur Treppe hinüber. Die Augen starr auf die offene Wohnzimmertür gerichtet, schob sie einen Fuß vor den anderen und spürte gar nicht, dass ihre Lippen sich bewegten und sie lautlos sinnlose Beschwörungsformeln vor sich hin murmelte.
Bleib schön sitzen, du Fettwanst. Rühr dich jetzt bloß nicht vom Fleck.
Die Hand mit dem Messer hielt sie vorgestreckt, als bewege sie sich auf den Feind zu und hätte nicht einen im Rücken.
    Die erste und die zweite Stufe schaffte sie, ohne ein Geräusch zu verursachen. Die dritte knarrte. Sie erstarrte, hielt erneut den Atem an. Aber der Dicke schaute sich wieder eine Kindersendung mit viel Radau an. Die Geräuschkulisse verdeckte sowohl das Knarren als auch das schwache Schaben, das bei jedem Schritt entstand, weil ihre Oberschenkel in der Jeans aneinander rieben.
    Die Hälfte der Treppe hatte sie bereits geschafft, als der Dicke meckernd auflachte. Dabei klatschte es aus dem Wohnzimmer, als habe er sich vor Vergnügen auf die fetten Schenkel geschlagen. Zuerst fuhr sie in sich zusammen, dann dachte sie, nur weiter so, du Scheißkerl, amüsiere dich noch ein bisschen.
    Und dann stand sie oben. Noch die paar Schritte über den Teppich, die Klinke fassen und behutsam herunterdrücken. Hoffentlich hatte Heiko das Schafzimmer nicht abgeschlossen, ehe er das Haus verließ, um Einkäufe … An die Möglichkeit hatte sie bisher noch gar nicht gedacht. Und die Tür war offen, ehe sie den Satz zu Ende denken konnte.
    Wie in der Nacht herrschte im Zimmer absolute Finsternis. Nur vom Flur fiel ein schmaler grauer Streifen herein, er reichte nicht sehr weit. Sie wartete auf ein Geräusch aus den Betten, dass Alwine Retling sich aufrichtete oder Albert Retling etwas sagte. Sie mussten doch gehört haben, dass jemand hereingekommen war. Aber es blieb still.
    Betäubt, dachte sie. Die Scheißkerle geben ihnen Schlaftabletten oder mischen K.-o.-Tropfen ins Essen, deshalb brauchen sie die Tür nicht abzuschließen. Aber sie hätten wenigstens mal das Fenster öffnen können. Auch bei heruntergelassenem Rollladen wäre etwas frische Luft hereingekommen.
    Dieser Geruch. Widerlich und durchdringend. Sie meinte, in der Nacht wäre es nicht so schlimm gewesen. Abgestandene Luft, erfüllt von den Ausdünstungen zweier alter Menschen, von Krankheit und Angst. Genau so hatte es im Zimmer ihrer Mutter gerochen in den Wochen vor ihrem Tod.
    Schlimme Wochen, eine entsetzliche Krankheit, ein qualvolles Sterben. Weil es draußen eisig kalt war, hatte man nie richtig durchlüften können. Der Geruch nach Siechtum und Verfall hatte dem Zimmer noch lange danach angehaftet, sich in Tapeten und Teppichen, den Gardinen und Möbeln festgesetzt. Wahrscheinlich hing er dort immer noch. Sie wusste es nicht, weil sie das Sterbezimmer ihrer Mutter seit Monaten nicht mehr betreten hatte.
    Sie atmete nur ganz flach, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, um einen Augenblick zu verschnaufen. Dabei spürte sie den Druck der Klinke in ihrer Taille. Und noch etwas. Der Schlüssel steckte innen.
    Vom Doppelbett kam nicht der leiseste Ton. Kein Wunder, wenn sie betäubt worden waren. Ihr Plan konnte trotzdem funktionieren. Den Dicken nach oben locken konnte sie doch auch selbst.
    Ihre Hand strich an der Wand hoch, bekam den Lichtschalter zu fassen und drückte ihn. Augenblicklich wurde es hell. Und das Entsetzen überschüttete sie wie ein Wasserfall. Die beiden Körper waren in der Helligkeit entschieden besser auszumachen als in der Nacht. Und in den seitdem vergangenen Stunden musste jemand ein Laken über ihre Köpfe gelegt haben. Wahrscheinlich war es besser so.
    Ihr Blick wurde wie magisch angezogen von einem kleinen schwarzen Gegenstand. Ein Handy, das auf dem Nachttisch in der gegenüberliegenden Ecke lag.
    Sie musste um das Bett herum, und zuerst konnte sie sich nicht von der Stelle rühren. So viele Gefühle auf einmal.
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