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Höhenangst

Titel: Höhenangst
Autoren: Nicci French
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auch gut?«
    Mir war der Gesprächsstoff ausgegangen, aber ich wollte trotzdem noch nicht auflegen. Jake klang plötzlich beschäftigt. Ich hörte ihn mit jemand anderem reden, konnte aber nicht verstehen, was er sagte.
    »Ja, Liebes. Hör zu, ich muß jetzt aufhören. Bis später.«

    Der Morgen verging. Ich nahm an einer weiteren Besprechung teil, diesmal mit der Marketingabteilung, und brachte es fertig, einen Krug Wasser über den Tisch zu verschütten und kein Wort von mir zu geben.
    Anschließend ging ich die Forschungsunterlagen durch, die Giovanna mir per E-Mail geschickt hatte. Sie wollte um halb vier bei mir vorbeischauen. Ich rief bei meinem Friseur an und vereinbarte für ein Uhr einen Termin. Ich trank eine Menge bitteren, lauwarmen Kaffee aus Kunststoffbechern. Ich goß die Blumen in meinem Büro.
    Ich lernte, » Je voudrais quatre petits pains «und » Ça fait combien? «zu sagen.
    Kurz vor eins nahm ich meinen Mantel, legte meiner Assistentin einen Zettel hin, daß ich etwa eine Stunde weg sein würde, und polterte die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Es fing gerade zu nieseln an, und ich hatte keinen Schirm dabei. Ich sah zu den Wolken hinauf, zuckte mit den Achseln und ging los, um mir in der Cardamom Street ein Taxi zu nehmen. Nach ein paar Schritten blieb ich wie angewurzelt stehen. Die Welt verschwamm vor meinen Augen. Mein Magen machte einen Satz. Ich hatte das Gefühl, als müßte ich mich zusammenkrümmen.
    Da stand er, nur wenige Schritte von mir entfernt. Als hätte er sich seit dem Morgen nicht von der Stelle bewegt.
    Er trug noch seine schwarze Jacke und Jeans. Auch jetzt lächelte er nicht, sondern stand einfach nur da und sah mich an. Es kam mir vor, als hätte mich noch nie zuvor jemand richtig angesehen, und plötzlich wurde mir mein Körper auf eine besonders intensive Weise bewußt – das Pochen meines Herzens, das Heben und Senken meiner Brust beim Atmen, die Oberfläche meines Körpers, die vor Panik und Aufregung prickelte.
    Er war etwa so alt wie ich, Anfang Dreißig. Ich glaube, mit seinen blaßblauen Augen, seinem wirren braunen Haar und seinen hohen, flachen Wangenknochen war er als schön zu bezeichnen, aber damals wußte ich nur, daß er mich mit seinen Augen derart fixierte, daß ich das Gefühl hatte, von seinem Blick festgehalten zu werden. Ich hörte mich nach Luft schnappen, konnte aber weder weitergehen noch mich von ihm abwenden.
    Ich weiß nicht, wer den ersten Schritt machte. Vielleicht stolperte ich auf ihn zu, oder vielleicht wartete ich einfach auf ihn. Als wir uns schließlich gegenüberstanden, ohne uns zu berühren, sagte er mit leiser Stimme:
    »Ich habe auf dich gewartet.«
    Ich hätte laut loslachen sollen. Das war nicht ich, so etwas konnte unmöglich mir passieren. Ich war doch nur Alice Loudon, unterwegs, mir an einem feuchtkalten Januartag die Haare schneiden zu lassen. Aber ich konnte weder lachen noch lächeln. Ich konnte ihn bloß ansehen, seine weit auseinanderstehenden blauen Augen, seinen leicht geöffneten Mund, die zarten Lippen. Seine Zähne waren weiß und ebenmäßig, mit Ausnahme eines Schneidezahns, bei dem ein Stück abgebrochen war. Sein Kinn war voller Bartstoppeln. Am Hals hatte er einen Kratzer. Sein Haar war lang und ungekämmt. O ja, er war schön. Am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt und seinen Mund ganz sanft mit dem Daumen berührt. Ich wollte das Kratzen seiner Bartstoppeln an meinem Hals spüren. Ich versuchte etwas zu sagen, aber alles, was ich herausbrachte, war ein ersticktes, gekünsteltes »Oh«.
    »Bitte«, sagte er, ohne den Blick von mir abzuwenden.
    »Kommst du mit?«
    Er konnte ein Straßenräuber sein, ein Vergewaltiger, ein Psychopath. Ich nickte wie betäubt, und er trat auf die Straße hinaus und winkte ein Taxi herbei. Er hielt mir die Tür auf, berührte mich aber noch immer nicht. Als wir beide im Wagen saßen, nannte er dem Fahrer eine Adresse und drehte sich dann zu mir um. Ich sah, daß er unter seiner Lederjacke nur ein dunkelgrünes T-Shirt trug. Er hatte ein Lederband um den Hals, an dem eine kleine silberne Spirale hing. Ich betrachtete seine langen Finger mit den gepflegten, sauberen Nägeln. Am linken Daumen hatte er eine weiße, wellige Narbe. Seine Hände sahen aus, als könnten sie zupacken, stark und gefährlich.
    »Sagst du mir deinen Namen?«
    »Alice«, antwortete ich.
    »Alice«, wiederholte er. »Alice.« So, wie er es sagte, klang das Wort fremd in meinen Ohren. Er hob die
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