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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Kopf bis zu seinen Ohren vor, und vielleicht war seine Ohrenröte
     das erste Zeichen seiner Verliebtheit.
    Sie zuckte zusammen, als der Direktor, der Mann, der die Decke inspizierte, seine Ohren mit den Händen umschloß, er sah aus,
     als würden ihm Fäuste aus den Schläfen wachsen. Vier Tage später saß sie mit ihm in einer Bar, die bekannt war für die Sitzschalen,
     in denen man versank, es war schwierig, sich einigermaßen würdevoll zu erheben, deshalb saß sie mit voller Blase ihm gegenüber,
     der sich für dieses Treffenbunte Krawatte umgebunden hatte. Er sprach davon, daß mancher Menschen Herzen in eine Nußschale paßten, und in der nächsten
     halben Stunde waren sie damit beschäftigt, aufzuzählen, was alles tatsächlich in einer (halben) Nußschale Platz hatte: eine
     Rosine, ein Brotkrümel, die Aschesäule einer Zigarette, an der man dreimal gezogen hat, ein Weisheitszahn, ein klitzekleiner
     Rechenstein, Papierschnipsel … plötzlich stand sie abrupt auf und strebte hastig zur Damentoilette – er sah ihr nach – sie
     spürte seinen Blick, und als sie etwas später am Waschbecken stand, starrte sie den Seifenspender an und dachte: Oh Gott er
     möchte eine Affäre mit mir anfangen wenn ich mich nicht irre gibt es zwischen uns einen Altersunterschied von vierundzwanzig
     Jahren das kann nicht gutgehen und wie erkläre ich es meiner Mutter sie wird mich ein trübes Frauchen schimpfen jetzt wasch
     dir die Hände und gehe zurück ja ich wußte es er hat in der Zwischenzeit für uns ein zweites Glas Wein bestellt was schwebt
     ihm da vor heute nacht.
    Sie gingen mehrmals aus, heimlich, er ging dazu über, gleich eine Flasche Wein zu bestellen, und auch die Albernheit, am Korken
     zu riechen, den der Kellner ihm reichte, schreckte sie nicht ab. Der Direktor kümmerte sich um sie, und sie hatte nicht vor,
     sich hochzuschlafen: Das alles paßte haargenau in die Nußschale. Er brauchte nur einen besseren Haarschnitt, er sah aus wie
     ihr kleiner Bruder nach dem Aufwachen. Das erste Mal, in einem Hotelzimmer, nicht billig, nicht verhetzt, nicht betrunken,
     und sie riß nach der schönen Liebe im Bad das Zellophan auf, füllte das Plastikwasserglas voll. Und trank. Sie hatte eine
     Hausstauballergie und schlief deshalb unter einer Decke mit Astronautenbezug, und als Laken benutzte sie ein großes Tischwachstuch.
     Sie würde es ihm erklären, und er würde sich daran gewöhnen. Die verdammten Milben brachten sie zum Niesen, sie brachten sie
     um.
    Sie würde nicht einmal zucken, wenn ein Schabernackmännchen durch lautes Lachen sie aus dem Schlaf risse, aber vielleicht
     hatten sie Angst vor den Katzen, auch sie traute dem Frieden nicht, wenn sich die beiden im Korb kringelten. Sie waren ja
     Tiere, die ihre Ohren dem Geräusch zuwenden, und die Laute wurden über das Holz und den Beton übertragen. In manchen Nächten
     hoffte sie auf Ermunterung. In manchen Nächten löste sich eine Ecke der Plane und flappte im Wind. In diesen Nächten trank
     sie, und trank und trank. Die Trinker mit spitzem Kinn und tiefer Kinnkerbe, mit der Weinflasche vor sich, sie kannte sie.
     Sie glich ihnen nicht, sie lag im Dunkeln, nüchtern war sie farblos, weinheiter war sie über ihr Herzklopfen unbekümmerter. (Nur wer lächelt, wird zum Tanzen
     aufgefordert.) In vielen Nächten lag sie einfach da, den Zeigefinger im Buch, um die Seite nicht zu verschlagen, so wie sie
     es als kleines Mädchen getan hatte. Zuviel Schmerz, um aufzustehen, zuviel Feenstaub an ihrem Kleid, um nicht von einem Tanz
     mit einem guten Mann zu träumen. In ihren Augen leuchtete ein bißchen Weiß, ein bißchen Braun. Und die Glanzpunkte an ihren
     Wimpern. Wenn sie schielte, sah sie den Glanz, und sie sagte es laut auf: Ich sehe den Glanz. Es hörte sich verrückt an. Das
     Wetterleuchten am trüben Himmel über dem Wald trieb sie ans Fenster, und sie hielt sich fest am Fensterbrett, sie schielte,
     sie sah den Glanz und war froh darüber, was sollte ihr in diesem Augenblick den Frohsinn schwinden machen, wer sollte sie
     bestehlen. Und dann ein leiser Regen, morgen würden die Schabernackmännchen an den Wurzeln hängen, und sie würde so tun, als
     hielte sie sie für langgezogene dicke Tropfen. Obwohl es noch kalt war, roch es nach Frühling, zuviel Paradies zur falschen
     Jahreszeit.
    Im Balbin Poesiekneipchen geschah es, es geschah, daß es sie wieder einmal in das Viertel Vinohrady verschlug, am Tag nach
     der schweren Nacht, am Tag
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