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Hinter verzauberten Fenstern

Hinter verzauberten Fenstern

Titel: Hinter verzauberten Fenstern
Autoren: Cornelia Funke
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gleich wieder da«, sagte sie und flitzte zum hundertsten Mal an diesem Tag die Treppe rauf in ihr Zimmer.
An der dunklen Wand über ihrem Bett leuchteten tausend kleine Punkte – und ein schmales Viereck. Das offene Fenster.
Julia knipste das Licht an und ging vorsichtig auf den Kalender zu.
Der Mantel war immer noch verschwunden, aber jetzt hing an dem Kleiderständer eine karierte Jacke mit einer Papierblume im Knopfloch.
»Ich werd verrückt!«, flüsterte Julia.
»He, du sollst zum Essen kommen!« Julia zuckte zusammen. Olli stand in der Tür. »Guckst du dir immer noch das blöde Bild an?«, fragte er. Neugierig kam er näher und schielte an Julia vorbei auf den Kalender.
»He, da hängt ja eine Jacke!«, sagte er, und seine dunklen Augen wurden rund wie Murmeln. »Heute Morgen war da keine Jacke!«
»Spinnst du?«, sagte Julia. »Natürlich war da eine. Komm jetzt, wir gehen runter.« Sie nahm ihren Bruder am Arm und zerrte ihn zur Tür. Der verdrehte seinen Kopf nach dem Kalender. »Da war keine Jacke!«, sagte er wütend und riss seinen Arm los.
»Na gut, du hast Recht«, sagte Julia. »Ich hab sie dazugemalt, damit das Bild nicht so leer aussieht. Komm jetzt!«
»Eine Jacke? Wieso denn eine Jacke?«
»Mir ist nichts anderes eingefallen«, sagte Julia ungeduldig. »Komm jetzt endlich. Und mach die Tür hinter dir zu.«
»So was Blödes«, sagte Olli und kam widerstrebend hinter ihr her. »Warum hast du nicht einen Nikolaus gemalt?«

    »Ist mir eben nicht eingefallen«, sagte Julia und ging langsam die Treppe hinunter. Sie hatte Angst, dass sich ihr Bruder doch nochmal umdrehen würde. Aber da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Er überholte sie sogar mit seinen kurzen Beinen und schoss in die Küche. »Mama!«, hörte sie ihn brüllen. »Julia hat in ihrem Kalender rumgemalt.«
»Na und?«, sagte ihre Mutter und warf Olli einen ärgerlichen Blick zu. »Ist doch ihr Kalender. Was geht dich das an?« Eins zu null für Julia. Genüsslich biss sie in ihr Leberwurstbrot.
»Sie hat aber nur so ‘ne blöde karierte Jacke auf das Bild gemalt«, sagte ihr Bruder mit beleidigter Miene. »Na und?«
Olli merkte, dass es keinen Zweck hatte. Schmollend saß er vor seinem Teller. Wenn er nicht weiterwusste, versuchte er es immer mit Schmollen.
»Iss«, sagte Mama, »oder es gibt keinen Nachtisch.«
Julia verkniff sich ein Grinsen. Olli biss in sein Brot und warf ihr einen seiner finsteren Blicke zu.
Während Julia ihren Schokoladenpudding löffelte, überlegte sie, ob es wirklich klug war, ihrer Mutter nichts von dem Mantel und der Jacke zu erzählen. Vielleicht war der Kalender ja gefährlich? Ach was. Sie kratzte ihre Schüssel aus und leckte den Löffel ab. Olli warf ihr immer noch düstere Blicke zu. Sie streckte ihm die Zunge raus. Nein. Sie würde keinem was erzählen. Was sollte an einem Pappkalender schon gefährlich sein? Sie hatte sich schon immer gewünscht, mal ein richtiges Geheimnis zu haben. Jetzt hatte sie eins. Und ein Geheimnis musste man geheim halten.
»Ich hab heute keine Lust zum Fernsehen«, sagte sie und stand auf. »Ich geh nach oben lesen.«
»Ist gut«, sagte Mama, »viel Spaß.«
Ollis Augen hingen an ihr wie Kletten. Julia ging gemächlich die Treppe hinauf. Damit ja keiner auf die Idee kam, sie hätte es eilig. In ihrem Zimmer angekommen, holte sie erst mal ihren Geheimschlüssel aus dem Regal und schloss ab, damit Olli nicht plötzlich wieder in ihrem Zimmer stand. Dann krabbelte sie mit klopfendem Herzen auf ihr Bett und lugte in das offene Fenster.
Es war hell wie ein erleuchtetes Fenster in einem echten Haus.
Und da hing die Jacke. Rot und grün kariert. Aus der einen Tasche baumelte ein Taschentuchzipfel heraus, und der eine Ärmel hatte einen großen Flicken am Ellbogen.
Der, dem sie gehörte, dachte Julia und biss vor Aufregung auf ihren Fingernägeln herum, ist bestimmt hinter dem zweiten Fenster.
Sie sah auf ihren Wecker. Erst acht Uhr. Na und? Das war schließlich kein normaler Kalender. Also war es auch egal, wann sie das Fenster aufmachte.
»Julia?« Olli war vor der Tür. Sie hatte es gewusst. Im ›Lautlos-die-Treppe-Raufschleichen‹ war er Weltmeister. Er war furchtbar neugierig – vor allem auf Dinge, die große Schwestern machen.
»Was willst du?«
»Darf ich rein?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Ich lese.«
»Ich möchte deinen Kalender nochmal angucken.«
»Morgen.«
»Ich will aber jetzt!«
»Nein.«
»Du bist gemein!«
»Und du bist eine Nervensäge.«
»Ich sag
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