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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern
Autoren: Friedrich Ani
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ihr Spiel notgedrungen und höflichkeitshalber unterbrechen mußten. Hopf hatte sich dann in seine über der Pension gelegene Wohnung zurückgezogen.
    Sie hatten Kuchen mitgebracht, und Ann-Kristin hatte Kaffee gekocht, und es fiel ihr schwer, das Gespräch in Gang zu halten. Als Leonhard Fischer auf die Toilette ging, sagte sie: »Wir hätten vorher anrufen sollen. Wieso sind wir überhaupt hier? Du erzählst nichts und dein Vater denkt nur an sein blödes Kick-Tipp.«
    »Tipp-Kick«, sagte Fischer.
    »Trotzdem blöd.«
    »Es ist sein Hobby.«
    »Warum sind wir hergekommen?«
    »Ich weiß nicht.«
    Später, nach weiteren drei oder vier Flaschen Bier, fand der alte Mann seine Sprache wieder, und er erzählte von den Gästen in der Pension und bedauerte, daß kaum Frauen dabei seien, die sich etwas trauten.
    »Was sollen sie sich trauen?« fragte Ann-Kristin.
    »Zu blinzeln.«
    »Bitte?«
    »Die trauen sich nicht mal zu blinzeln, wenn sie mir auf dem Flur begegnen, die halten das schon für anmacherisch.«
    »Das bilden Sie sich ein.«
    »Das bilde ich mir nicht ein, das erkenne ich.«
    Wenn man Leonhard Fischer widersprach, dauerte es nicht lange, bis er verstummte oder einfach aufstand, ein Fußballmagazin nahm und sich für eine halbe Stunde auf der Toilette einsperrte. Irgendwann wurde er müde, dann blieb er sitzen und tat nur noch so, als würde er zuhören.
    Nachdem er in die Flasche gepustet hatte, ohne einen Ton zu erzeugen, sah er seinen Sohn an. »Wie war die Frau so, die vom Nachtclub? Hatte sie Grandezza?«
    Die Frage verblüffte Ann-Kristin. Zwar hatten sie im Lauf des Nachmittags über den Fall, den Leonhard Fischer aus der Zeitung kannte, gesprochen, aber er hatte bisher nicht den Eindruck vermittelt, als würde er sich mehr für die Arbeit seines Sohnes interessieren als sonst. Und was sie vor allem irritierte, war, wie lange Polonius über die Frage nachdachte, bevor er mit ernster Miene und – wenn Ann-Kristin sich nicht verschaute – einem Schatten von Traurigkeit antwortete, eindringlicher, als sie erwartet hatte.
    »Ja. Sie stellte sich nicht aus. Vielleicht wollte sie bewußt nicht zuviel von sich hermachen. Sie kannte ihre Wirkung, und sie legte Wert darauf, daß man ihre Figur und ihr Frausein schätzte, aber Übertreibungen duldete sie nicht.«
    »Woher weißt du das?« Die Frage schnellte Ann-Kristin über die Lippen. Ihre Verwunderung wuchs mit jedem Wort, das die Männer wechselten.
    »Ich vermute es.«
    »Sie hat nicht versucht, dich einzuwickeln«, sagte Leonhard Fischer.
    »In keinem Moment. Sie wußte, was sie getan hatte, und sie erwartete kein Verständnis, auch nicht für das Leben, das sie geführt hatte. Und trotzdem frage ich mich: Warum hat sie ausgerechnet diese zwei Semmeln bestellt?«
    »Wahrscheinlich hatte sie Hunger«, sagte der alte Mann.
    »Das glaube ich nicht«, sagte sein Sohn. »Ich glaube nicht, daß sie hungrig war. Es ging um etwas anderes.«
    »Um was denn, wenn man zwei Semmeln bestellt?« fragte Ann-Kristin vorsichtig.
    »Um das Ritual des Essens«, sagte Fischer. »Aber woran dachte sie bei diesem Ritual?« Er schloß die Augen, wog den Kopf hin und her und öffnete die Augen. »Wir kennen wieder nur einen winzigen Ausschnitt aus einem Leben, nämlich den, den wir beweisen können.«
    Dann sprachen eine Zeitlang weder er noch sein Vater ein Wort, und sie griffen das Thema nicht wieder auf. Ann-Kristin kam sich plötzlich unsagbar fehl am Platz und ausgeschlossen vor.
    Beim Abschied an der Tür sagte Leonhard Fischer: »Hat sie auch so gut gerochen?«
    »Sehr gut, Papa.«
    »Und hat sie dir geraten, deine Haare zu färben?«
    Vielleicht täuschte sich Ann-Kristin. Aber sie hätte schwören können, daß Polonius errötete.
     
    Ungefähr auf Höhe des italienischen Restaurants auf der anderen Seite der Weifenstraße blieb Ann-Kristin Seliger stehen. »Warum ›auch‹? Warum hat dein Vater gefragt, ob Clarissa auch so gut gerochen hat. Wer noch?«
    Fischer nahm ihre Hand, die sie ihm entzogen hatte. »Wie meine Mutter. Ich habe mit dir nie darüber gesprochen, in den dreizehn Jahren nicht, die wir zusammen sind. Weil mein Vater und ich das so wollten. Meine Mutter war nicht Krankenschwester von Beruf, sie arbeitete in einem Bordell, hier in der Stadt. Ich war zehn, wie du weißt, als sie ertrank, und natürlich wußte ich schon als Kind, was sie wirklich tat, im Gegensatz zu den meisten unserer Bekannten. Und es war der Wunsch meines Vaters, die Legende nach
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