Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz
Autoren: Christiane Tramitz
Vom Netzwerk:
der Strang zog ihn immer höher, bis er am Ort der Erinnerungen angekommen war, dort, wo die Zeit stille stand. Und die tanzenden Nebelgeister schwebten vor ihm hinweg, sie öffnete ihre großen Mäuler und jaulten mit kalter Luft dem Kraxnerbauer ins Gesicht: »Oh Urban, oh weh, sieh, komm mit und sieh, was du angerichtet hast.« Füchse, Hasen, Dachse und Rehe standen Spalier, über dem sich ein Netz dichter Spinnweben gelegt hatte. »Er kommt«, wisperten die einen, »zu spät, zu spät« die anderen. »Ruhe, alle mal Ruhe«, krächzte der Hennengeier, der, bis auf eine Feder, nackt am Pfahl hing. Und die Tiere hielten ein, die Schwaden ließen sich zur Erde, wo sie wie Wellen langsam auf und ab tanzten. Der Wind verzog sich in die Baumwipfel. Und da konnte man es hören, leise, leise und doch so erbarmungsvoll bittend, dieses Heulen und Wimmern, das aus der Tiefe des Tremplerhofs kam.
    Ein letztes Mal füllte Urban seine Lungen mit der Luft des Diesseits, dann, uhhhhh, presste er sie mit einem grauenvollen Schrei nach draußen, durchs Fenster. Ins Jenseits.
    Die Raben, Elstern und Habergeiße erhoben sich von ihren Bäumen und segelten durch die Lüfte. Ihr Totenlachen hallte über das Tal.
     
    Lea hatte sich bereits auf dem Weg zu ihren Träumen befunden, als leises Rascheln sie zurückholte. Sie blinzelte kurz und sah, wie ihre Mutter Moos, Steine und Äste vom Bett auf den Tisch räumte und die Zeichnung auf den Nachttisch legte. Dann spürte sie einen Kuss, vernahm das Klacken der Tür und glitt wieder langsam zurück in die Tiefen des Schlafs. Irgendwann, zu später Stunde, nachdem der Mond Silberpuder über Fuchsbichl gestreut hatte, saß auf einmal Luis vor ihr. »Komm mit mir«, schnurrte er.
    »Wohin gehen wir?«, fragte Lea.
    »Auf den Himmelsspitz. Das wolltest du doch immer«, antwortete der Kater und funkelte sie dabei mit seinen gelben Augen an.
    Und so machten sie sich auf den Weg. Sie schlichen sich durch den schlafenden Ort, an der Kapelle und am Hof vorbei, in dem die schwarze Frau wohnte. Lea sah sie am Fenster stehen, wie sie lächelte und ihnen zuwinkte. Als sie das Stallgebäude passierten, schlug im ersten Stock ein Fenster auf und zu. Ein alter Mann stand dahinter, mit der einen Hand schwenkte er ein Holzbein, mit der anderen eine Axt. »Wehe, ihr geht hinauf zu ihm«, rief er den beiden drohend zu und zeigte dabei seine zahnlose Mundhöhle.
    »Lass ihn reden, hör nicht auf ihn«, knurrte der Kater. Hinter der großen Kurve, am Findling, verließen sie den befestigten Weg und bogen links ab. Lea musste sich bücken. Flach wie der Kater kroch sie hinter ihm durch das Gebüsch, bis das Gestrüpp lichter wurde, sodass sie wieder aufrecht gehen konnte. Der Mond leuchtete hell und beschien den Pfad wie eine Taschenlampe des Himmels. Der Wind begleitete sie, mal leise säuselnd, mal pfeifend, mal brausend. Schweigend gingen sie nebeneinander her, bis der Kater auf einmal sagte:
    »Es wird jetzt steil und gefährlich. Halt dich an meinem Fell fest, damit du nicht stürzt.« Dann bäumte er sich auf und wurde größer und größer, bis er Lea um einen Kopf überragte. Auf zwei Beinen stiefelte er vor ihr hinweg, Lea krallte ihre Hand in sein weiches Fell. Sie kletterten über dickes Geröll, über Baumstämme und Felsen. Immer höher und höher stiegen sie, eine steile Felswand entlang. Neben ihnen zogen schwarze Vögel geräuschlos ihre Kreise.
    Als sie an einen reißenden Bach kamen, ließ sich Luis wieder auf seine vier Tatzen fallen.
    »Spring auf und halt dich fest«, sagte er zu Lea. Sie kletterte auf seinen Rücken, und mit einem riesigen Satz sprang das Tier hinüber zur anderen Seite. Dort empfing sie ein Wald mit knorrigen Bäumen von derart bizarrer Gestalt, dass Lea meinte, in ihrem Wuchs Lebewesen zu erkennen. Waldmenschen mit langen Bärten, die aus türkisblauen Moosgeflechten bestanden. Der Wind hauchte Leben in sie, ließ sie flüstern, knacken und tanzen. Die Alten und Gebrechlichen von ihnen hatte er zu Boden stürzen lassen. Und so lagen sie da wie Leichname, mit ihren nackten, von der Sonne ausgeblichenen Astgebeinen. Ihre Rümpfe, von Krabbelgetier innen ausgehöhlt, zerfielen zu Erde.
    Dort, wo sich der Pfad in diesem kreuz und quer von Leben und Zerfall verlor, ruhte ein dunkler Tümpel, in dem sich zwei gelbe Kröten im Mondschein paarten. Sie quakten laut, als sie Lea und Luis kommen sahen, dann tauchten sie in die Tiefe und sandten dicke Luftblasen an die Oberfläche.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher