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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz
Autoren: Christiane Tramitz
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waren sie losgezogen, rauf über die Wolfsschlucht, hoch in die Wälder, Großvater und Enkel, zum letzten Mal gemeinsam.
    »Urban«, holte ihn nun Fertls Stimme zurück in die Kammer, »die Hamburger Gäste sind nicht zufällig herkemma, sondern das Schicksal hat es so wolln, das Schicksal, das von droben kimmt. Weil so an Zufall es net gebn kann. Hast g’hört? So an Zufall gibt’s net, denn horch genau, was es noch zu sagen gibt. G’storbn ist der Wurzl in den Armen eines kleinen Mädchens. Sie heißt Lea. Sie ist sieben Jahre alt.«
    Und?, dachte Urban. Und? Was soll mich das rühren? Geh doch endlich, Jesusschnitzer! Urban wollt seine Sterne zählen und schlafen. Einfach nur schlafen. Doch Fertl tat ihm nicht den Gefallen, im Gegenteil, er setzte sich wieder hin.
    »Das Mädchen, diese Lea, sie schaut aus wie der Tobi einst. Urban, des ist kein Zufall, des ist a Hinweis des Schicksals, zeig Reue und verrat, wo er ist, der Tobi«, mahnte er eindringlich. »Der Bub war nicht unter der Mure verschüttet, so wie du es behauptet hattest, als Karl dich g’funden hat. Sag, was du mit dem Jungen g’macht hast. Gib Agnes ihren Sohn wieder, damit sie ihn Gott übergeben kann und eine Ruh findet. Es ist jetzt allerletzte Zeit.«
    Urban spürte Fertls Fäuste auf seiner Brust, wie sie ihn tief in die Matratze drückten. Was schon sollte geschehen, was noch kommen?
    Er klappte seinen Kiefer wieder zurück und lächelte, wie friedlich Schlafende es zu tun pflegen, wenn sie in schöne Träume tauchen. Dabei hoffte er, sein heftig klopfendes Herz würde ihn nicht verraten.
    Auf diese Weise verharrten beide in Stille, Fertl und Urban, ein jeder darauf wartend, dieser quälende Moment würde endlich vorübergehen.
    Schließlich erhob Fertl sich und öffnete das Fenster. Ein kalter Windhauch durchzog die Kammer.
    »Was für eine klare Nacht heut, keine Wolke mehr am Himmel«, sagte er und seufzte tief.
    »Alsdann, Urban, du willst es net anders! Dann bleibst allein in deiner Schuld. Das Fenster lass ich offen, damit’st besser spürst, was gleich draußen vorgeht, in dieser Nacht. Soll eine besondere Nacht werdn, hat Cilli auf dem Zettel g’schriebn. Das spürt sie.«
    Dann herrschte Stille in der Kammer, nur der Wind pfiff und heulte jämmerlich. Urban fühlte milchigweiße Nebelschwaden, deren Konturen sich pfeilschnell änderten. Rundlich geballt waren sie, als sie durchs Fenster geströmt kamen, und riesig gebläht in der Kammer, auf dass sie alles zu fassen bekämen, was es zu durchwehen gab, auch Urbans schütteres Haar. Und plötzlich wurden die Schwaden schmal und spitz und sausten hinaus durchs Schlüsselloch, die Stiegen hinunter, quer durch den Stall. Urban schauderte. Es strömten Geister durch seine Kammer, ja, so sahen sie wohl aus, die Tremplergeister!
    Der Kraxnerbauer zitterte am ganzen Körper. War Fertl noch im Raum? Hatte er die Geister gerufen? Oder war er gar selbst nur ein Unheil bringendes Gespenst gewesen? Hatte Urban alles nur geträumt, oder war alles ein Anzeichen für den Abschied vom Diesseits? Lange Zeit lag er so da, benebelt vom Geisterhauch, bis er schließlich wagte, die Augen zu öffnen und den Kopf nach links zu drehen. Tatsächlich, Fertl war verschwunden. Spur-und geräuschlos, wie ein Geist.
    Urban spürte und hörte, wie seine Zähne klapperten. Sollte er froh oder betrübt sein ob dieser Anzeichen, dass etwas von ihm noch lebte? Er wusste es nicht. Eines jedoch war ihm klar: Von nun an würden ihm die Stunden davonlaufen, hier in dieser Kammer, in der sonst neben dem Bauern selbst nur noch die Zeitlosigkeit zu Hause war. Die Gedankenschnipsel, die er sonst so erfolgreich fabrizierte, Wurzl – Tobi – Qual – Durst – Tod – Verwesung, fügten sich wie von unsichtbarer Hand geführt zusammen, knüpften ein Seil, das sich um Urbans Hals legte und ihn in die Höhe zog. Machtlos war er über die Gedanken, die auf einmal Formen annahmen und ihm Bilder zeigten, Bilder des Weges hinauf zum Himmelsspitz.
    Sein Herz begann zu pochen, laut und schnell, als täte sein Körper die Schritte, nicht seine Gedanken. Das Seil schnürte ihm die Luft ab, sodass er zu japsen begann. Er wollte sich der Umschlingung entreißen, doch womit nur, klebten seine Hände doch auf der Brust, die knochigen weißen Finger ineinander verwachsen, sodass sie nichts mehr tun konnten für den alten Kraxner. Und so ging’s weiter hinauf des Weges.
    Hirngespinste, nichts anderes, dachte Urban noch verzweifelt, doch
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