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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz
Autoren: Christiane Tramitz
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Problemen gequält wird, die sie am Tag nicht bewältigen kann. Ahnen Sie, um welche Sorgen es sich dabei handeln könnte?«
    Isabel schüttelte den Kopf.
    »Dann müssen wir das Geheimnis Ihrer kleinen Tochter eben knacken. Zusätzlich soll sie vorläufig mal abends ein paar beruhigende Tabletten einnehmen«, beschloss er und notierte sich die weiteren Sitzungstermine in seinen Kalender.
    Lea mochte die Stunden bei ihm nicht besonders leiden. Henning stellte nämlich viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte und wollte.
    Schließlich ließ er sie Bilder malen. Weil auf beinahe jedem, egal, ob sie eine Familie oder Tiere zeichnete, auch ein Berg zu sehen war, zu dessen Gipfel ein kleiner Weg führte, war Henning davon überzeugt, der Berg stünde in enger Verbindung zu all den wirren Nächten.
    Und so begann er seine Fragen auf den Himmelsspitz zu konzentrieren. Zu diesem Zweck breitete er alle gemalten Bilder auf einem großen Tisch aus und eröffnete die Therapie stets mit dem gleichen Satz:
    »Hier haben wir also viele schöne Himmelsspitze! Himmelsspitz, schöner Name für einen Berg. Warst du schon mal in den Bergen, Lea?«
    Lea schüttelte den Kopf.
    »Also warst du auch noch nie auf dem Himmelsspitz, hab ich recht?«
    Wieder schüttelte sie den Kopf.
    »Liebe Lea, willst du mir verraten, woher du den Himmelsspitz kennst?«
    »Von einer Postkarte«, antwortete das Kind.
    »Warum gefällt dir denn der Berg so gut?«
    Lea zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
    »Überleg mal. Was ist das Besondere an dem Berg?«
    »Nichts«, wiederholte Lea. »Nichts.«
    Henning seufzte. Irgendwann, nach der fünften oder sechsten Sitzung, nahm er einen Radiergummi in die Hand und sagte:
    »Gut, wenn der Berg nicht wichtig ist, dann können wir ihn ja aus dem Bild entfernen. Ja?« Und er begann, mit ungeduldigen Bewegungen die Zacken des Berges wegzuradieren, bis Lea kaum hörbar flüsterte:
    »Weil er bis zum Himmel geht.«
    Henning hielt inne und legte den Radiergummi zur Seite. »So, so, bis zum Himmel. Hmh, und dieser Weg, den du hier«, dabei zeigte er auf all die Pfade, die ausgebreitet vor ihnen lagen, »immer so schön malst, der führt also in den Himmel?«
    Lea wusste keine Antwort. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin der Pfad sie führen würde, nur, dass er in ihren Träumen stets schrecklich unwegsam war, gespickt mit garstigem Gebüsch, an dem spitze Dornen saßen und auf sie warteten, um ihr Gesicht, Beine und Arme zu zerkratzen. Sie musste sich ducken und wie ein Wurm über den Boden kriechen, derart dicht waren die Äste gewachsen. Käfer und Würmer begleiteten sie auf dem Pfad. Kleine Vögel hüpften neben ihr auf dem Boden. »Weiter, weiter, kleine Lea«, zwitscherten sie ihr aufmunternd ins Ohr. Die ersten Meter dieses Pfades verliefen immer gleich, doch endete er an unterschiedlichen Stellen seines Verlaufs. Mal gelangte Lea zur Biegung, bei der das Geröll begann, mal bis zu jener Stelle, an der links am Rand der dichte Moosteppich wuchs. Ein Mal, und in dieser Nacht war sie besonders weit gekommen, befand sie sich auf etwas, was wie eine Hängebrücke aussah. Weil diese so furchterregend hin und her wackelte, dass Lea drohte, das Gleichgewicht zu verlieren und in den reißenden Fluss unter ihr zu stürzen, umklammerten ihre Hände die Seile, welche links und rechts gespannt waren, bis die Finger bluteten. »Nicht fallen, nicht fallen«, krähten die pechschwarzen Raben, die neben ihr durch die Lüfte wehten. Doch als ein heftiger Windstoß die Brücke erfasste, sie aus den Felsangeln riss und durch die Luft schleuderte, dass Lea verloren dem Himmel entgegensegelte, wie die großen Todesvögel, durchzuckte es ihren Körper, und sie schrie aus vollen Kräften, bis Isabel und Horst aus dem Haus gestürmt kamen und sie von der Gartenschaukel zogen.
    Ja, so endete der Pfad stets.
    »Vielleicht führt der Weg tatsächlich in den Himmel«, murmelte Herr Henning und kratzte sich bedächtig am Bart. »Möchtest du denn in den Himmel?«, fragte er schließlich.
    »Ich bin doch nicht tot«, antwortete Lea. Henning seufzte wieder.
    Schwerer Fall, dachte er und schrieb ein paar Notizen in sein dickes Patientenbuch.
     
    Nach ein paar Wochen Therapie bat Doktor Henning Isabel in seine Praxis.
    »Ich denke«, hob er an, »Ihre Tochter braucht Ruhe. Ruhe und einen Ortswechsel. Fahren Sie doch mit ihr in die Berge, am besten so bald wie möglich«, riet er.
    »Die Berge? Warum ausgerechnet dorthin?
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