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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz
Autoren: Christiane Tramitz
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Worunter leidet meine Tochter, haben Sie denn eine leise Ahnung, Herr Doktor?«, fragte Isabel.
    »Das weiß ich nicht, ich weiß auch nicht, ob sie überhaupt leidet. Ich fühle nur, dass ein Teil ihrer Gedanken mit einem Berg zu tun hat. Ihre Tochter malt in den Sitzungen auffallend häufig einen Berg. Dieser Berg hat stets die gleiche Form mit seinem zackigen Gipfel.«
    »Ah, der Himmelsspitz!« Isabel lächelte kurz.
    »Was hat es mit diesem Berg auf sich?«
    »Nichts Besonderes, Lea kennt ihn von einer alten Postkarte aus meinem Fotoalbum.«
    »Wo liegt denn dieser Berg?«
    »Irgendwo in Österreich, glaube ich zumindest.«
    »Waren Sie denn schon mal dort?«
    »Nein, ich kenne den Berg nur von der Postkarte, die mir ein alter Schulfreund geschenkt hatte.«
    »Ich denke, das wäre doch für Ihre Tochter eine nette Überraschung, was meinen Sie? Überlegen Sie es sich doch einmal.«
    Isabel versprach, sich den Vorschlag durch den Kopf gehen zu lassen. »Gut, vielleicht haben Sie ja recht, vielleicht tun ihr die Berge wirklich gut«, sagte sie.
    »Ich habe noch eine Frage an Sie«, sagte der Psychologe. »Leas Vater, Sie erzählten mir, sie würde ihn nicht kennen.«
    »Stimmt, sie kennt ihn nicht.«
    »Fragt sie nicht häufiger mal nach ihm?«
    »Manchmal. In den letzten Jahren aber immer seltener.«
    »Wo ist denn ihr Vater?«
    Isabel zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Bitte fragen Sie nicht weiter.«
    »Und was haben Sie dem Kind über ihn erzählt?«
    »Nun ja, nicht viel. Sie weiß, dass er Tiere liebte. Und die Tiere ihn.«
    »Mehr nicht? Hat Lea nie gefragt, wo ihr Vater ist?«
    »Doch, ich habe Lea erzählt, dass ihr Vater ein Reisender war. Und dass er auf einer Reise war, auf der ich ihn nicht begleiten konnte.«
    »Sie sprechen in der Vergangenheit von ihm.«
    »Stimmt. Er ist Vergangenheit.«
    Als sie die Praxistür hinter sich geschlossen hatte, fühlte sich Isabel elend, denn mit einem Schlag war sie wieder da, die Erinnerung. Von nun an würde sie Regie führen, die Dramaturgie bestimmen, die Worte wählen, die Gefühle dirigieren – und Isabel zu einer Statistin werden lassen, in einem Stück, dessen Ende noch nicht geschrieben war.
    Horst hatte sich von dem Urlaubsziel alles andere als begeistert gezeigt. Die Bergwelt lag ihm nicht besonders, er zog das Wasser und die Wärme, insbesondere aber den Luxus vor. »Gibt es denn da überhaupt gute Hotels?«, hatte er zweifelnd gefragt. »Ich meine, den ganzen Sommer irgendwo zwischen Kühen und Schweinen zu verbringen, das muss wirklich nicht sein. Und dann auch noch zu diesem Himmelswitz oder Himmelsspitz oder wie auch immer der heißen mag. Warum ausgerechnet dieser Berg?«
    Doch irgendwann gab er dem Drängen Isabels nach und willigte ein, mit ihr und Lea einen Sommer lang in die Bergwelt zu verreisen, und zwar in jene, die für das Kind eine besondere Überraschung bedeuten würde.
    Die Lage des Himmelsspitzes zu eruieren, war für einen findigen Mann wie ihn nicht schwer. Ein Anruf beim Alpenverein hatte genügt. Vom örtlichen Touristenbüro ließ sich Horst Prospekte und Reiseführer dieser Gegend kommen, aus denen er abends, wenn alle beim Essen saßen, vorlas.
    »Mitten in der imposanten Gebirgslandschaft liegt der Höhenluftkurort. Er ist infolge seiner sonnigen Lage das beliebte Urlaubsziel aller Erholungssuchenden. Schöne Spaziergänge in den umliegenden Wiesen und Waldhängen und in die blumigen Almlandschaften über der Waldgrenze sind die Anziehungspunkte für den Ruhesuchenden, das weite Berg-und Gletschermeer das Ziel der Bergstürmer.«
    Er zwickte Lea in die Wange. »Na ja, mal sehen. Stürmen muss ja nicht sein.« Dann las er weiter.
    »Gemütliche Gasthöfe, moderne Hotels und Tanzcafés sorgen für gute Unterkunft und Geselligkeit. Ein Tennisplatz und ein modernes Schwimmbad sind im Bau.«
    Er hatte kurz innegehalten. »Meine Güte, in diesen modernen Zeiten noch kein Schwimmbad, da sagen sich ja Fuchs und Hase gute Nacht. Da ist wohl die Welt zu Ende.«
    Ein Lastwagen überholte hupend. Isabel sah den Beifahrer aus dem Fenster winken. Er lachte, eine Zigarette im Mund. Horst zog seine Hand zurück, sie hatte sich weit vorgetastet, weiter als es für die Augen anderer bestimmt war. Verlegen räusperte er sich und bedeckte Isabels Bein mit ihrem Rock. Dann trat er energisch auf das Pedal und lenkte seinen Kapitän auf die Überholspur.
    Der Tag begann zu dämmern, die Reisenden schwiegen, Horst gegen die Müdigkeit
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