Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsschwingen

Himmelsschwingen

Titel: Himmelsschwingen
Autoren: Jeanine Krock
Vom Netzwerk:
draußen ins Meer mündete, ebenso wenig an einem stetig wehenden Wind, wie es an Gold fehlte. Die Menschen liebten das glänzende Edelmetall und ließen keine Gelegenheit aus, aller Welt zu zeigen, dass sie es sich leisten konnten, ihre Stadt und sich selbst damit zu schmücken.
    Mehr Dekorationen , dachte sie, hätte man an diesen Fassaden auch nicht anbringen können, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Und doch reichten sie bei Weitem nicht an die feudale Gestaltung im Inneren der Paläste und Museen heran.
    Als das Winterpalais unter der Zarin Elisabeth I. ausgebaut wurde, hatte Iris im Palast zu tun gehabt und war seither häufiger zurückgekehrt, um sich an den fantas tischen Kunstwerken zu erfreuen, die dort aufbewahrt wurden. An die vielen Bilder zu denken, die in feuchten Magazinen vergessen lagerten, anstatt ihren Betrachtern Freude zu bereiten, tat ihr in der Seele weh.
    Viel Zeit für Erinnerungen blieb ihr nicht. Um im größer werdenden Gedränge nicht aus Versehen jemanden zu berühren, musste ein unsichtbarer Fußgänger höllisch aufpassen. Wobei dieses Wort sicherlich nicht glücklich gewählt war, dachte Iris und sprang auf das Brückengeländer, ohne dabei ihre Schwingen zu öffnen. Gerade noch recht zeitig, um den Zusammenstoß mit einer ziemlich kräf tigen Frau zu vermeiden, deren Art sich zu kleiden sie als Fremde auswies. Für Samjiel, so erschien es ihr von ihrem erhöhten Ausblick, öffnete sich der Strom der Passanten wie einst das Meer dem auserwählten Volk. In diesem Fall jedoch kein Wunder – die meisten von ihnen waren bestimmt einen halben Kopf kleiner, und niemand bewegte sich wie er, ohne den geringsten Zweifel daran, zum Besten zu gehören, das jemals geschaffen worden war. Ein himmlischer Krieger, wie ihn die Menschheit nur noch aus dem Museum kannte. Die personifizierte Arroganz , fügte Iris in Gedanken hinzu.
    Samjiel würde ihre Meinung nicht kümmern. Die Menschen interessierten ihn ebenso wenig wie andere Engel, und Iris hegte nicht ohne Grund Zweifel daran, dass er überhaupt etwas Vergleichbares wie Freude kannte. Er gehörte zu denjenigen, die ausgesandt worden waren, die alte Ordnung wiederherzustellen. Eine Ordnung, in der es nur einen Platz gab für ausgeflippte Engel und ihre Brut . Und der war bei Luzifer – dem Abtrünnigen, der sich immer noch Lichtbringer nennen ließ und doch nur den Untergang der Schöpfung im Sinn hatte. So oder so ähnlich hatte Iris es schon unzählige Male von einem dieser selbst ernannten Gerechten gehört.
    Wie konnte man nur so verbohrt sein? Von den sogenannten Gefallenen hatten sich keineswegs alle der Dun kelheit zugewandt. Viele arrangierten sich recht gut mit ihrem Schicksal, ohne ihre Ideale zu verraten. Dabei halfen sie den Armen, pflegten Kranke oder zeugten mit ihren sterblichen Partnern neues Leben; Kinder der Liebe, deren wunderbare Talente jeden Tag den Blick für die Schönheiten des Daseins schärften.
    An einen Pfeiler gelehnt, dachte sie an die zahllosen Kunstwerke, die sie in ihrer langen Existenz nur hier auf der Erde gefunden hatte. Natürlich gab es in der magischen Welt andere, weit mysteriösere Erscheinungen, und hätte ihr jemand erzählt, dass selbst die Unterwelt Zauberhaftes für ihre Bewohner bereithielt, sie wäre nicht überrascht gewesen.
    Wie auf ein Stichwort verwandelten die Strahlen der Abendsonne die Newa in einen verwunschenen Spiegel, in dessen Tiefe alles Gold der Stadt zusammenfloss. Über ihr schwebten Wolkenbänder vom Wind gerupft, die Ränder ausgefranst wie die Kanten handgeschöpften Papiers. Und ein Blatt Papier war es auch, das sie aus ihren Träumereien riss. Es flatterte wie ein kleiner Vogel über den Köpfen der Passanten, sank zu Boden und wurde gleich darauf vom Sog einer Enduro aufgewirbelt, deren Fahrer im Stau im dichten Verkehr die Geduld verloren zu haben schien. Anders waren die halsbrecherischen Manöver jedenfalls nicht zu erklären, mit denen er sich mit seiner Cross-Maschine zwischen den Autos hindurchdrängte und sogar über den Bürgersteig raste, was ihm einige saftige Flüche der Passanten einbrachte. Doch der junge Mann lachte nur und zeigte den nächsten gewagten Stunt, in dem er sich durch den Gegenverkehr schlängelte. Noch während sie der schmalen Gestalt nachsah, hörte sie neben sich ein Schnaufen. »Nicht mal einen Helm trägt der Idiot!«
    »Den braucht er nicht mehr, seine Zeit ist bald abgelaufen. Aber dich! Also sieh zu, dass du ihn rechtzeitig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher