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Hier und jetzt

Hier und jetzt

Titel: Hier und jetzt
Autoren: Eileen Wilks
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riesige Gebäude betrachtete, in dem sie während der nächs ten Wochen wohnen sollte.
    Es war bereits für Weihnachten geschmückt, obwohl sie erst vor wenigen Tagen Thanksgiving gefeiert hatten. Lichterketten waren über den Giebel der Fenster im ersten Stock gespannt und erzeugten rote Farbflecke auf dem grauen Stein. Durch den Re genschleier entdeckte sie links von sich einen Turm. Waren da oben am Dach tatsächlich Schießscharten angebracht? Du lieber Himmel!
    Claire klemmte den Laptop unterm Regenmantel fest, schützte sich mit dem Regenschirm, so gut das ging, stieg aus dem Bronco ihres Cousins und lief die Stufen hinauf.
    Der Klingelknopf befand sich im aufgerissenen Maul eines Wasserspeiers. Sie lächelte, als sie klingelte. Wer öffnete gleich die Tür? Zu einem solchen Haus passte ein unglaublich würdiger Butler oder der Glöckner von Notre Dame.
    Wie enttäuschend. Die Tür knarrte nicht, als sie aufschwang, und nicht der Glöckner von Notre Dame stand vor Claire.
    „Du meine Güte!” rief die zierliche alte Frau. „Das ist ja schlimmer, als ich dachte … oder besser.”
    Die Frau war nicht größer als ein sehr kleines zwölfjähriges Mädchen. Das dünne, krause Haar stand ihr wirr vom Kopf ab und hatte die Farbe von Ringelblumen. In mindestens fünfzig Sommern hatte die Sonne von Texas dieses Gesicht gebräunt. Die Frau trug ein Sweatshirt, eine weite, olivgrüne Hose und eine Schürze. An den Ohren funkelten Steine, die so groß waren, dass sie aus einer Cornflakespackung hätten stammen können. Claire war jedoch ziemlich sicher, dass sie echt waren.
    „Ich bin Claire McGuire”, stellte sie sich vor.
    „Natürlich sind Sie das. Wer sonst, der so aussieht, sollte bei diesem Wetter hier auftauchen?” Die kleine Frau schüttelte den Kopf. „Kommen Sie trotzdem herein. Sonia hat mich gewarnt. Sie hat mir auch versichert, dass Sie nicht versuchen werden, den Jungen zu verführen. Sehr anstrengen mussten Sie sich aber nicht, oder?”
    „Wie bitte?” fragte Claire verdutzt.
    „Ist schon gut.” Die Frau lachte. „Keine Ahnung, was Sonia sich dabei gedacht hat, aber jetzt wird es bei uns bestimmt interessant. Kommen Sie mit.”
    Claire folgte ihr in die Diele. Wasser tropfte auf den Marmorboden. Ein brillanter und exzentrischer Eremit musste wohl eine ungewöhnliche Haushälterin haben, wenn schon nicht der Glöckner von Notre Dame für ihn arbeitete. „Sie sind vermutlich Ada.”
    „Ich hätte mich vorstellen sollen, aber ich dachte mir schon, dass Sonia Ihnen von mir erzählt hat.”
    „Sie meinte, ich würde Sie mögen.”
    „Manche Leute mögen mich, ja. Haben Sie kein Gepäck? Geben Sie mir den Regenmantel.
    Ich hänge ihn zum Trocknen in die Küche.”
    Claire zog gehorsam den tropfenden Mantel aus. „Meine Sachen sind im Wagen. Falls es jemals wieder aufhört zu regnen, hole ich sie.”
    Ada nahm den Mantel entgegen. „Unter dem Treppenaufgang ist ein Badezimmer, wenn Sie sich herrichten wollen.” Sie mus terte Claire vom Scheitel bis zur Sohle und lächelte amüsiert. „Nötig haben Sie es allerdings nicht. Oh ja”, fügte sie hinzu und wandte sich ab.
    „Das wird noch sehr interessant.”
    Claire schüttelte amüsiert den Kopf, während die zierliche Frau durch einen Torbogen verschwand.
    Die Eingangshalle war im klassischen Stil gehalten - recht eckig, überall Marmor, riesig und mit Stuckarbeiten an der ho hen Decke. Links stand neben einer geschlossenen Tür ein großer Weihnachtsbaum. Rechts befand sich die Freitreppe. Direkt vor sich sah Claire zwei Durchgänge. Den einen hatte Ada benützt. Dahinter befand sich ein Korridor. Durch den zweiten kam man in ein dunkles Wohnzimmer, in dem kein Licht brannte.
    Da ihr feuchtes Haar am Kopf klebte, holte sie eine Bürste aus der Handtasche, hielt sich allerdings nicht mit der Suche nach dem Badezimmer auf. Dass sie im Moment schrecklich aussah, wusste sie auch so. Was sie nicht wusste, waren Einzelheiten über ihren neuen Arbeitgeber, den sie noch nicht kennen gelernt hatte.
    Natürlich hatte sie von ihm gehört. Jeder in der Finanz weit kannte den „Eismann”. Man erzählte sich von Jacob West, er wäre brillant, einsiedlerisch und exzentrisch. Manche mochten ihn nicht, viele beneideten ihn, einige fürchteten ihn sogar. Einig waren sich alle nur in zwei Punkten. Er verstand es geradezu unheimlich gut, Geld zu scheffeln, und er log niemals. Er mochte verschwiegen und rücksichtslos sein, doch sein Wort galt mehr als bei den
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