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Hexennacht

Hexennacht

Titel: Hexennacht
Autoren: Michael Siefener
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der Wand, hinter der sich
das Dach eines mit kleinen Türmchen verzierten Erkers befand.
Und auf diesem Dach stand Jürgen Meisen. Arved hörte, wie
er schluchzte, als wieder ein Hochhaus in recht geringer Entfernung
in sich zusammenstürzte. Arved blieb in dem Durchgang stehen und
sah gebannt zu, wie Magdalena auf das Dach hinaustrat. Sofort
erfasste der Wind sie wieder und zerwirbelte ihr Haare und Kleid.
    »Jürgen, komm. Ich bin es. Deine Magdalena. Ich bin bis
hierher gekommen, um dir zu helfen«, sagte sie mit einer Stimme,
die Arved die Tränen in die Augen trieb.
    Und Jürgen Meisen drehte sich tatsächlich um. Arved sah
seine zugenähten Augen und den in unsäglichen Schmerzen
verzerrten Mund. Magdalena lief auf ihn zu. Jürgen schien etwas
sagen zu wollen, doch er kam nicht dazu. Magdalena stand vor ihm,
umarmte ihn sanft und strich ihm über die Augen. Die Fäden
lösten sich, schmolzen. Vorsichtig schlug er die blauen Augen
auf. Und sah sie.
    Sie küsste ihn. Er schlang die Arme um sie. Beide weinten vor
Glück.

 
31. Kapitel
     
     
    Gemeinsam schritten sie die Treppe hinunter. Jürgen Meisen
war sehr schwach; er konnte nicht schnell gehen. Die Stufen schienen
kein Ende zu nehmen. Immer wenn Arved durch den geländerlosen
Mittelschacht schaute, hatte er den Eindruck, dem nur undeutlich
erkennbaren Boden keinen Meter näher gekommen zu sein.
    Magdalena stützte ihren Mann. Alle Streitereien und
Zwistigkeiten schienen vergessen. Auch wenn es Arved ein ganz klein
wenig weh tat, freute er sich doch sehr über diesen Anblick.
Manchmal blieben sie stehen und küssten sich zärtlich und
glücklich, als müssten sie sich vergewissern, ob sie auch
wirklich wieder zusammen seien.
    Arved ging vor ihnen die Treppe hinunter und ließ ihnen so
wenigstens ein bisschen Zweisamkeit. Manchmal hörte er einige
Wortfetzen von Jürgen Meisen, wenn eine Windbö es geschafft
hatte, bis in das Innere des Rohbaus zu dringen.
    »… keine Ahnung, wie das alles passiert ist… der
Übergang war so schrecklich… bei vollem Bewusstsein…
und war mit dieser schrecklichen Alten zusammen… sie hat mir
lachend gesagt, dass ich im ersten Kreis wäre und noch sehr viel
vor mir hätte… unendlich… entsetzliche Qualen…
immer das, was einem selbst am schlimmsten ist… wie müssen
erst die anderen Kreise aussehen… fort von hier…«
    Fort von hier… wie sollte ihnen das gelingen? Arved schob
diesen Gedanken beiseite. Zuerst war es wichtig, aus dem Gebäude
herauszukommen.
    Sie schritten die Stufen hinunter, bis sie so müde waren,
dass sie eine lange Pause einlegen mussten. Es hatte den Anschein,
als wären sie überhaupt nicht tiefer gekommen. Sie setzten
sich erschöpft auf die Treppe. Von fern ertönte immer
wieder ein Rumpeln und Donnern; es waren weitere einstürzende
Rohbauten.
    »Ich…«, flüsterte Jürgen Meisen
müde, »ich war es, der das alles erbaut hat. Aber es
hält nicht. Es ist falsch berechnet. Es kann nicht vollendet
werden.« Er verzog das Gesicht vor Qualen.
    »Wenn Sie es erbaut haben, kennen Sie auch den Weg
hinaus«, meinte Arved.
    »Es gibt keinen Weg hinaus. Die Stadt erstreckt sich auf
allen Seiten bis an den Horizont. Wir müssten wochenlang laufen,
und vielleicht hat die Stadt inzwischen ja gar kein Ende mehr. Wir
sind hier gefangen. Für immer.« Jürgen Meisen
stützte den Kopf in die Hände.
    »Wir sind nicht so weit gekommen, nur um jetzt
aufzugeben«, sagte Arved. »Wir finden einen Weg. Wir haben
bisher immer einen Weg gefunden.«
    Jürgen Meisen schaute ihn von unten herauf zweifelnd und
dankbar zugleich an. Magdalena legte den Arm um ihn. »Alles wird
gut«, sagte sie beschwichtigend.
    »Dann lasst uns weitergehen«, sagte Jürgen Meisen
mit plötzlicher Entschlossenheit und stand auf. Sie machten sich
wieder auf den Weg.
    Und irgendwann hatten sie es geschafft. Sie hatten das Erdgeschoss
erreicht. Und sie traten hinaus auf die Straße. Hier war es
viel dunkler als oben auf dem Wolkenkratzer. Die Hochhäuser
ließen kaum Licht in die Straßenschluchten einfallen. Es
dauerte einige Zeit, bis sich ihre Augen an die graue Düsternis
gewöhnt hatten.
    Eine Betonbank an der toten Straße lud zu einer Pause ein.
Die drei setzten sich und atmeten tief durch. Die Luft schmeckte nach
Schutt. Inzwischen hatten sie sich an das Rumpeln und Grollen
gewöhnt, und Jürgen Meisen schien es nichts mehr
auszumachen. Er hatte nur noch Augen für seine Frau. »Wie
habt ihr mich gefunden?«, fragte er
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