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Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Titel: Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Autoren: C.H.Beck
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beim jungen Zürcher der Vorsatz der täglichen Schreibdisziplin. Man weiß dabei nicht recht, ob der angeführte Genuß der Selbstbetrachtung der eigentliche und wahre Grund ist, warum Keller fürs Tagebuch plädiert. Glaubt er wirklich, man werde ein Tropf, wenn man sich der Übung der täglichen Niederschrift entzieht? Und was die zitierten Weiber angeht, würden sie ohne ihre Spiegel wirklich ihrer Bestimmung gegenüber dem Manne untreu? Ein Feld, auf dem der junge Gottfried übrigens nur sehr theoretisch Bescheid wußte.
    An anderer Stelle führt Keller noch weitere Gründe fürs Tagebuchschreiben auf. Und hier klingt schon ein privaterer, ja ein leiser Leidenston mit. Es gebe Zeiten, seufzt er, wo man, geschweige einen warmen Menschen, nicht einmal ein warmes, lebendiges Buch zur Hand habe, an dem man sich bereichern und erquicken könnte. In diesen Zeiten solle das Tagebuch sein Trost sein! Wenn er einen lieben langen Tag nichts Bleibendes getan habe, so wolleer wenigstens dies hineinschreiben, und dann werde das Buch ihm entweder einige Gedanken geben oder einige entlocken, so daß doch ein paar Worte zurückblieben von der luftigen Blase, der Zeit.
    Aber nicht bloß in Tagen der Mutlosigkeit – nein! auch in Tagen der festlichen, rauschenden Freude will er stille Momente verweilen und ausruhen im
    traulichen Schmollwinkel meines Tagebuches. Ich will die schönsten Blüten erlebter Freude hineinlegen, wie die Kinder Rosen- und Tulpenblätter in ihre Gebetbücher legen; und wie sie sich dann in späteren Jahren wehmütig erfreuen, wann ihnen so ein verblichnes Blumenblatt in einem alten Buche zufällig wieder in die Hände fällt: so will ich mich in meinen letzten Erdentagen erfreuen an den Bildern entschwundener Freuden. Wann dann zwischen dreihundertfünfundsechzig Regentagen des Leidens nur
ein
Sonnentag der heiteren Freude und des Mutes hervorlacht, so will ich alle jene Regentage vergessen und mein dankbares Auge nur auf diesen sonnigen Freudentag heften und den Herren preisen, daß er mir wenigstens diesen gegeben hat.
    Das sind poetische Vorsätze, die der junge Künstler sich da macht. Nun weiß man, welchen Weg die meisten menschlichen Vorsätze gehen. Mit dem selbstironischen Witz, derihm inzwischen zugewachsen ist, schreibt Gottfried Keller über seine Eloge des Tagebuchs beim späteren Wiederlesen:
    Diese Worte habe ich vor fünf Jahren, im Heumonat 1838, in meinem neunzehnten Jahre, niedergeschrieben, ohne daß ich bis jetzt irgend einmal ein Tagebuch angefangen hätte. Ich denke aber, es geht mir nicht allein so, und ich habe schon oft geahnt und an mir selbst erfahren (ich müßte denn eine tüchtige Abnormität sein), ich habe schon oft bemerkt, sage ich, daß in der Welt sehr viel Schönes, Wahres, sehr gründlich und solid Scheinendes, dem, der es sagt, zur Ehre Gereichendes gesprochen, geschrieben und behauptet wird, ohne daß es dem Autor im mindesten in den Sinn käme, das mit so viel Energie Geäußerte auf sich selbst anzuwenden oder auszuüben.
    So wäre uns das erste Beispiel für einen überzeugten Diaristen gleich gründlich mißraten. Keller lehrte das eine und tat das andere. Er predigte das Wasser des täglichen Pensums und trank den Wein der Schreibabstinenz. Dafür hat er uns mit dem Ausdruck «Schmollwinkel» beschenkt, der eine Seite des Tagebuchschreibens genau trifft. So wie der große Außenseiter der deutschen Romantik Jean Paul den hauptsächlichen Zweck der Ehe darin sah, daß mansich vor der Ehefrau ungeniert loben dürfe, so kann man sich im Tagebuch so recht über die böse Welt ausschütten. Das Tagebuch ist gewissermaßen die Beschwerdestelle, deren Schalter nie geschlossen hat, die Hotline ohne Warteschleife – und noch dazu gebührenfrei. Schon Arthur Schnitzler vermerkte 1880 im Tagebuch über das «Scribieren», das er sich nun einmal angewöhnt habe, es sei ein wohltuendes Gefühl, «mit wem zu plaudern, der einem nicht widersprechen kann».
     
Heute zu Tisch mit der Geheimrätin
    Nicht jeder Mensch, der ein Tagebuch führt, muß indessen ein Pankrazscher Schmoller, eine Mimose oder ein Griesgram sein – wobei Mimosentum sicher hilft. Positiv gewendet: eine erhöhte Aufmerksamkeit für die inneren Regungen und Malaisen.
    Ein Idol und literarischer Lehrmeister Kellers stand in seiner Jugend einem Zirkel nahe, der diese erhöhte Aufmerksamkeit für die inneren Regungen zum Kult erhob. Das Idol war Goethe, und der Zirkel war der pietistische Kreis um Susanna
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