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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen
Autoren: J Sendker
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nicht gelernt.
    »Das geht nicht. Ich würde ja sehr gern … aber, die Arbeit … das Büro …wartet …« Ich sprach den Satz nicht zu Ende, es war mir unangenehm, ihr eine solche Geschichte zu erzählen.
    Wir standen lange schweigend nebeneinander.
    Sie flüsterte etwas, und U Ba zögerte einen Moment, es zu übersetzen.
    »Sie fragt, ob sie Thar Thar etwas ausrichten soll.«
    Unsere Blicke trafen sich, ich spürte, dass sie viel mehr wusste, als ich geahnt hatte.
    Ich schluckte. Zögerte. »No.«
    »No?« Das ungläubige Staunen in ihrer Stimme. »No?«, wiederholte sie langsam und in einem Ton, der mir zu verstehen gab, dass das nicht die ganze Wahrheit sein konnte. Sie hatte mehr verstanden als ich.
    »No«, wiederholte ich mit dünner Stimme.
    »Yes«, flüsterte Moe Moe zurück. »Please.«
    Ich senkte den Blick. »Dass ich an ihn denke. Dass ich ihn vermissen werde.«
    U Ba übersetzte. Ihr Lächeln.
    Ich schulterte meinen Rucksack, Moe Moe folgte uns zum Ausgang. Wir verabschiedeten uns nur mit Blicken und stiegen die Treppe hinunter. Auf dem Hof rannten die Hühner noch aufgeregter herum als sonst. Ich drehte mich um, sie stand auf der obersten Stufe und winkte. Ich winkte zurück, ging weiter, drehte mich noch einmal um. Sie winkte noch immer. Sie winkte noch, als wir in den Weg einbogen und ich sie hinter den Büschen aus den Augen verlor.

11
    E s waren die kleinen Geschichten, die ihr geholfen hätten, das Große zu verstehen.
    Der selbst bemalte Kerzenständer, ein Geschenk zum Muttertag, der wochenlang unbeachtet in der Küche herumstand. Bis er herunterfiel und in zwei Teile zerbrach. Die sie später im Müll entdeckte.
    Die flüchtigen Küsse vor dem Einschlafen.
    Die immer gleichen Fragen, mit denen sie sich nach der Schule, ihren Nachmittagen, ihren Freundinnen erkundigte.
    Die Art, wie sie sie streichelte. Als wäre sie aus Holz.
    Der Ton, in dem sie sie nach einem schlechten Traum tröstete. In dem sie ihr zu verstehen gab, dass sie ihr zu viel war.
    Die Eile, mit der sie sich am Morgen anzog und fertig machte, anstatt bei ihr zu verweilen.
    Der Tag, an dem sie ihren Geburtstag vergaß.
    Aber sie war noch zu jung, um die kleinen Geschichten richtig zu deuten.
    Deshalb verstand sie auch das Große nicht. Fragte sich fortwährend, was sie falsch machte. Glaubte, alles sei ihre Schuld. Machte sich Vorwürfe. Suchte das Glück beständig an den falschen Orten.
    Der Mensch, dessen Wärme sie brauchte, ertrug ihre körperliche Nähe nur schwer.
    Der Mensch, dessen Zärtlichkeit sie bedurfte, kam mit leerem Herzen.
    Der Mensch, nach dessen Aufmerksamkeit und Bestätigung sie sich so sehnte, war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
    Es war nicht der Mensch, den sie gebraucht hätte. Aber einen anderen an ihrer Stelle gab es nicht.
    Später sagte sie sich:Wer kriegt schon immer, was er braucht, und wollte nicht klagen. Sie hasste Selbstmitleid.
    Da wusste sie noch nicht, wie wenig sie bekommen hatte. Wie hilflos und wie wehrlos sie gewesen war.
    Lebte in der festen Überzeugung, jemand anders würde es ihr geben, wusste nicht, dass das unmöglich ist.

12
    E s gibt Erinnerungen, denen entkommen wir nicht. Wir nehmen sie mit, ob wir wollen oder nicht, egal wie weit wir reisen. Sie verfolgen und begleiten uns im Guten wie im Schlechten. Wir atmen ihren Duft. Wir hören ihren Klang. Wir freuen uns an ihnen oder fürchten sie. Am Tage und in der Nacht.
    Meine Erinnerungen an das Kloster waren so intensiv, sie erfüllten mich mit einer solchen Sehnsucht, dass ich sie nur schwer ertrug. Moe Moes Lächeln am Morgen fehlte mir. Ihre grundlose Freude. Der Stolz in den Augen von Ko Lwin, wenn sich ihm ein neues englisches Wort erschloss. Die Geduld, mit der sie alle abwechselnd die zitternde Toe Toe fütterten.
    Und natürlich ging mir Maw Maw nicht aus dem Kopf. Wenn ich an sie dachte, stiegen mir Tränen in die Augen. Aus meiner ersten Eifersucht war Dankbarkeit geworden. Und Bewunde rung. Sie hatte nicht nur ihrem Bruder, sie hatte auch Thar Thar das Leben gerettet. Ich war mir sicher, ohne sie wäre er in seiner Todessehnsucht irgendwann auf eine Mine getreten. Oder von den Rebellen oder einem Soldaten erschossen worden.
    Sie hatte seinen gequälten Geist beruhigt, einen liebenden, einen liebesfähigen Menschen aus ihm gemacht. Immer wieder hörte ich Maung Tuns Worte, sah ich das Bild vor Augen, wie Thar Thar mit ihrem leblosen Körper im Arm den tosenden Fluss hinuntergeht. War sie ertrunken, oder ist sie
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