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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen
Autoren: J Sendker
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Bruder. Außerdem bitte ich dich darum.«
    Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Ihm lag etwas auf dem Herzen, seine Miene verriet ihn, die Art, wie er die Schultern hochzog und den gesenkten Kopf nach vorn beugte. »Vielleicht«, begann er und streckte das Wort in die Länge, »ist es an der Zeit zurückzukehren?«
    »Wohin?«, fragte ich erstaunt.
    »In deine Welt.«
    »Ist dies nicht meine Welt?« Ich versuchte gar nicht erst, meine Kränkung zu verbergen. Das Trennende in dem Satz verletzte mich.
    »Doch, natürlich«, lenkte er ein.
    »Willst du mich loswerden?«, fragte ich halb im Scherz.
    U Ba seufzte tief. »Julia, von mir aus kannst du für immer bleiben. Ich fürchte nur, du wirst hier nicht finden, was du suchst.«
    »Was suche ich denn?«
    »Klarheit.«
    »Worüber?«
    »Über dich.«
    »Du meinst, die finde ich in New York?«
    »Das weiß ich nicht. Aber vielleicht eher als hier.«
    »Warum denkst du das?«
    »Manchmal müssen wir das Weite suchen, um Nähe zu finden.«
    Ich verstand nicht, was er meinte.
    »Manchmal müssen wir etwas tun, um herauszufinden, dass wir etwas anderes wollten.«
    »Und dann ist es zu spät …«
    »Manchmal …«
    Ich atmete tief ein und wieder aus, ließ mich nach hinten sinken, bis ich ausgestreckt neben ihm lag.
    »Was würde der Buddha mir sagen?«
    U Ba lachte. »Dass die Wahrheit eines Menschen in seiner Seele liegt. Dort findest du die Antwort.«
    »Und wenn nicht?«
    »Dann hast du nicht gründlich genug gesucht.«
    Ich starrte in den Himmel und beobachtete die vereinzelten Wolken. Vielleicht würden sie mir mit ihren fließenden Formen ein Zeichen geben, doch ich sah nichts als unför mige weiße Gebilde, die mir hin und wieder die Sonne nahmen.
    »Glaubst du, Thar Thar hat recht, wenn er schreibt, ›wer einmal verlassen wurde, der trägt diesen Verlust in sich. Wer nicht geliebt wurde, der trägt eine unstillbare Sehnsucht nach Liebe in sich‹?«
    »Ja.«
    »Aber das bedeutet, dass wir alle Gefangene sind, oder nicht?«
    U Ba überlegte lange, bevor er antwortete. »Nein, das heißt es nicht. Was immer wir in uns tragen, jeder Mensch ist für sich, seine Handlungen und sein Schicksal selbst verantwortlich. Es gibt keine Gefangenschaft, aus der wir uns nicht befreien können.«
    »Das glaube ich nicht«, widersprach ich. »Manche Schatten sind einfach zu lang.«
    »Um aus ihnen herauszutreten?«
    »Ja.«
    Er schüttelte den Kopf. »Aber wir müssen ja auch nicht immer einer Meinung sein«, erwiderte er lächelnd und legte sich neben mich.
    Mir fiel Nu Nus Frage an ihren Mann ein: Glaubst du, dass ein Mensch sich häuten kann? Gelingt es, einen Teil von uns abzustreifen, wenn etwas anderes nachgewachsen ist? Oder, hörte ich sie fragen, müssen wir bleiben, wer wir sind?
    Was geschieht, wenn wir versuchen, das Alte abzustreifen, ohne dass etwas nachgewachsen ist?
    Ich dachte an Amy. Wie gut es mir jetzt täte, mit ihr alles zu besprechen. Wir würden zusammen auf ihrem Sofa sitzen, Wein trinken, Käse essen, die Situation gründlich analysieren, alle Pros und Kontras ausführlich bis in die Nacht diskutieren und sorgfältig abwägen. War es wirklich eine realistische Möglichkeit, länger in Burma zu bleiben? Was sollte ich hier machen? Mich in Rangun als Rechtsanwältin niederlassen? Ein Teehaus in Kalaw eröffnen? In einem Kloster in Hsipaw leben? Was spräche dafür, was dagegen? Sie würde mir mit ihren Fragen keine Ruhe lassen, und vermutlich würde ich im Gespräch mit ihr schnell selber merken, was für abstruse Ideen das waren. Doch ebenso wenig konnte ich mir vorstellen, wieder nach Amerika zurückzukehren und ins Büro zu gehen, als wäre nichts geschehen.
    Diesen Fehler hatte ich schon einmal begangen.
    Ich rechnete: Mein Anteil aus dem Verkauf unseres Elternhauses würde, wenn ich mich einschränkte, für mehrere Jahre reichen – in Burma vermutlich bis ans Ende meines Lebens. Was könnte ich in New York sonst machen? Welche Alternativen gab es zu dem Leben, das ich führte? Eine Frage, mit der ich mich noch nie ernsthaft beschäftigt hatte.
    Ich drehte mich zu meinem Bruder. Er hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig. Ich war gekommen, um das Geheimnis einer Stimme in mir zu lösen, sie war nun verstummt. An ihrer Stelle hörte ich eine andere, mir sehr vertraute. Es war meine eigene, die mir fortwährend Sätze einflüsterte, die sich widersprachen:
    Pack deine Sachen!
    Bleibe!
    Mach dich nicht lächerlich.
    Trau deiner Intuition.
    Was
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