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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition)
Autoren: T.A. Wegberg
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wieder so ein Haus geräumt worden, und er saß mit seinen Eltern und all ihren Habseligkeiten in einem Auto, auf der Reise zu irgendeinem anderen Ort, wo sie ihre Schlafsäcke ausrollen konnten. Er sagt, es gab keinen Streit oder so was, im Gegenteil, sie haben im Auto Musik gehört und gelacht, und seine Eltern haben Dope geraucht. Da er einen ganzen Liter Cola getrunken hatte, musste er dringend auf die Toilette, also hielten sie an einer Autobahnraststätte an, aber seine Eltern blieben im Wagen, während Anoki die Waschräume aufsuchte. Bei seiner Rückkehr dachte er zuerst, sie hätten das Auto woanders geparkt, und suchte erfolglos die komplette Raststätte ab. Dann stellte er sich an den Platz, wo er sie zuletzt gesehen hatte, und wartete.
    Es wurde dunkel. Es fing an zu regnen. Er blieb dort stehen oder hockte sich hin, wenn ihm die Beine wehtaten. Es wurde wieder hell. Gegen Mittag wurde er so hungrig, dass er in die Raststätte reinging und sich was zu essen klaute. Er wurde erwischt, die Polizei kam – und seine Eltern blieben spurlos verschwunden. Also kam er ins Heim. Es ist offensichtlich, dass er glaubt, sie würden ihn irgendwann abholen kommen.
    Ich fange an, mich für meine Feindseligkeit zu schämen, obwohl ich ihn immer noch als unerwünschten Fremdkörper empfinde. Diese Story geht mir unter die Haut. Ich habe heftiges Mitleid mit ihm, was es mir unmöglich macht, ihn weiter anzugreifen. Meine Eltern sind völlig aufgelöst. Ich glaube, meine Mutter hat Tränen in den Augen.
    »Wie kann man denn so ein zehnjähriges Würmchen einfach stehen lassen«, murmelt sie kopfschüttelnd, »das ist doch unvorstellbar!«
    Und mein Vater sieht Anoki jetzt eindringlich an und macht dabei ein trauriges, erschüttertes Gesicht. Ich spüre, dass die Würfel gefallen sind: Nichts kann sie mehr davon abhalten, dieses verlassene Häuflein Mensch in ihr warmes, solides Zuhause aufzunehmen, und am liebsten würden sie ihm infusionsartig all die Liebe und Geborgenheit geben, an der es ihm bisher wohl grundlegend gemangelt hat.
    Einen Moment lang überlege ich, ob er die Geschichte nur erfunden hat, um genau diese Wirkung zu erzielen, aber das kommt mir unwahrscheinlich vor. Erstens wird man ja alles in seiner Akte nachlesen können, und zweitens hat er während des Erzählens einiges an Coolness eingebüßt. Er sitzt jetzt mehr zusammengesunken als rüpelhaft in seinem Sessel, und die Hingabe, mit der er die ganze Zeit an seinem Pflaster rumfummelt, sagt einiges über seine innere Bewegtheit aus, dazu muss man kein Menschenkenner sein. Obwohl er mir leidtut, kann ich meine anderen Emotionen wie Eifersucht, Wut und Ablehnung nicht abschalten. Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich zu ihm sagen: »Okay, bist echt ’ne arme Sau, aber jetzt hau ab und lass uns in Ruhe.« Aber die Zeiten sind seit fünf Jahren vorüber. In meinem Elternhaus tue ich nur das, was von mir erwartet wird.
    Anoki verdrückt sich aufs Klo, wo er mit Sicherheit seine lang ersehnte Zigarette raucht.
    »Ist das nicht grauenhaft?«, sagt meine Mutter zutiefst verstört, als er das Zimmer verlassen hat. »Das arme, arme Kind!«
    Mein Vater sieht ihm nachdenklich hinterher und meint: »So eine Geschichte hab ich auch noch nie gehört.« Beider Köpfe drehen sich fast zeitgleich in meine Richtung, und sie sehen mich erwartungsvoll an.
    »Ja, echt traurig«, sage ich pflichtgemäß.

 
 
5
    Nachtmenschen sind meine Eltern nicht gerade. Gegen halb elf können sie ihr Gähnen nicht mehr unterdrücken und signalisieren, dass es Zeit zum Schlafengehen ist. Sie übertragen mir die Aufgabe, Anoki das Bad zu zeigen und ihm Handtücher zu geben. Netter Versuch, das Eis zwischen uns zu brechen. Ich gehe mit ihm hoch und weise ihn kurz in die Gepflogenheiten des Trojan’schen Haushalts ein. Er holt eine kleine Plastiktüte von H&M aus seinem abgeschabten und mit Buttons gepflasterten Rucksack, in der er sein Waschzeug aufbewahrt: Zahnbürste, Aldi-Zahnpasta, einen hellblauen Becher und Duschgel. Irgendwie löst das in mir eine neuerliche Welle von Mitleid aus. Ich hab noch nie jemanden kennengelernt, der nicht wenigstens einen Kulturbeutel besaß – die Dinger kosten doch nur ein paar Euro. Aber für Anoki ist das wahrscheinlich schon ein Vermögen. Aufgrund dieses Anfalls von Mitgefühl gebe ich ihm das flauschigste und dickste Badetuch, das ich im Schrank finde, und er schmiegt ganz kurz seine Wange daran, als sei es ein kostbarer Seidenstoff, was
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