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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition)
Autoren: T.A. Wegberg
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ein Kind aufnehmen?«, frage ich noch mal. Ein fremdes Kind in meinem Elternhaus? In Bennis Zimmer womöglich? Irgendso ein verwahrlostes, rotznäsiges Heimkind soll Benjamins Platz einnehmen?
    Meine Mutter nickt energisch, sie hat sich wieder im Griff. »Genau. Einen Jungen, der in Bennis Alter ist.«
    »Benni wäre jetzt neunzehn«, sage ich, »in dem Alter gibt es keine Pflegekinder mehr.« Aber ich weiß natürlich genau, was sie meint: in Bennis Alter zum Zeitpunkt seines Todes. Mit anderen Worten: ein verwahrlostes, rotznäsiges, pubertierendes Heimkind. Herzlichen Glückwunsch. »Habt ihr euch das wirklich gut überlegt?«, frage ich. »Das ist doch eine Riesenverantwortung! Und wenn es nicht klappt?« Meine Mutter strahlt eine verblüffende Energie aus. Ich habe sie seit fünf Jahren nicht mehr so zuversichtlich gesehen.
    »Was soll denn da nicht klappen«, wischt sie meinen Einwand beiseite, »ich hab doch zwei Söhne großgezogen, ich weiß, was mich erwartet. Wir stehen schon seit Januar mit dem Jugendamt in Kontakt, ich seh da keine Probleme.« Klasse, dass ich das auch schon erfahre.
    »Beide Seiten ziehen ihren Nutzen daraus. Der Junge bekommt ein vernünftiges Zuhause, und wir haben endlich wieder Leben im Haus.« Sie starrt mich trotzig an, als wolle sie mich mit ihrem Blick bezwingen. Ich gucke noch mal zu meinem Vater rüber, der weniger überzeugt aussieht, deshalb spreche ich ihn direkt an: »Und die Kosten? Ich meine, so ein Vierzehnjähriger lebt doch nicht von Luft und Liebe!« Mein Vater weicht meinem Blick aus, aber er sagt: »Wir kriegen doch dafür einen Zuschuss. Das ist kein Thema.«
    Am liebsten würde ich aufstehen und sagen: »Okay, dann bin ich ja jetzt hier endgültig überflüssig geworden. Macht, was ihr wollt, ich hoffe, ihr werdet glücklich.« Leider erlaubt meine Rolle als Brudermörder keine so souveräne Reaktion. Ich muss die kleinsten Brötchen backen, die je ein Familienmitglied gebacken hat. Ich bin ein Mördermördermörder und habe kein Recht auf gar nichts, am allerwenigsten auf Eifersucht. Also sage ich: »Ach so, na ja. Ja, vielleicht ist das ja gar keine schlechte Idee« und würge noch ein Stück Fleisch herunter, das in meiner Speiseröhre Widerhaken entwickelt.

 
 
2
    »Wir haben heute ein paar Jungs kennengelernt«, erzählt meine Mutter am Telefon. »Also, ich glaub, wir haben uns schon entschieden. Irgendwie war das sofort klar. Als ich den gesehen hatte, konnte ich mich auf die anderen gar nicht mehr richtig konzentrieren.«
    Warum muss ich bei diesen Worten an ein Tierheim denken? Ich finde die Vorstellung, dass man sich ein Kind aus einem Heim aussucht, ziemlich abartig.
    »Er heißt Anoki Kassek und ist gerade vierzehn geworden.«
»Was? Wie heißt der?«, schreie ich entsetzt in den Hörer.
    »Anoki Kassek«, antwortet meine Mutter leicht verunsichert, »er kommt aus Berlin.«
    Anoki? Was soll das denn für ein Name sein? So würde ich bestenfalls eine degenerierte Perserkatze nennen, aber doch kein Kind! Meine Skepsis erreicht ein Ausmaß, das an blanke Ablehnung grenzt.
    Ich reiße mich mühevoll zusammen. »Aha, und, äh, er hat keine Eltern mehr?«
»Die Einzelheiten kennen wir auch noch nicht. Am Freitag kommt er erst mal fürs Wochenende zu uns. Ich möchte, dass du dann auch hier bist. Und dann kannst du ihn alles selbst fragen, was du wissen willst.«
    Ich will gar nichts über ihn wissen, und ich will ihn auch nicht kennenlernen. Aber ich sage: »Dann komm ich Freitag gleich nach der Arbeit nach Hause.« Als ob diese Benjamin-Trojan-Gedächtnisstätte noch mein Zuhause wäre.
    Ich stehe endlos im Stau, weil gleichzeitig mit mir noch einige tausend andere Arbeitnehmer Berlin in Richtung Nordwesten verlassen. Man kann die Strecke in fünfzig Minuten schaffen, aber meistens benötige ich gute anderthalb Stunden, weil ich praktisch immer zu den Stoßzeiten fahre. Auf der A 24 hat es kurz vor der Raststätte Linumer Bruch einen Unfall gegeben, die linke Fahrspur ist gesperrt, und in quälender Langsamkeit quetscht sich der Freitagabendverkehr an den beiden zerknautschten Autowracks vorbei. Es gab eine Zeit, da hätte ich die Autobahn verlassen müssen, weil ich nicht in der Lage war, an verunglückten Fahrzeugen vorbeizufahren. So schlimm ist es heute nicht mehr, aber ich muss mich abwenden, als ich die Unfallstelle passiere, und weil mir danach noch kilometerlang das Herz gegen die Rippen hämmert, taste ich kurz vor der Abfahrt Neuruppin in der
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