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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition)
Autoren: T.A. Wegberg
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Während ich das denke, vermisse ich Benjamin mehr als je zuvor. Ich vermisse ihn so sehr, dass mir die Tränen in die Augen schießen.
    Kurz bevor ich einschlafe, kommt es mir so vor, als läge ein schwacher Grasgeruch in der Luft.

 
6
    Meine Eltern haben sich für den Samstag ein buntes Entertainment-Programm ausgedacht, damit Anokischätzchen sich nicht langweilt. Zu dessen Durchführung müsste er allerdings allmählich mal aus dem Bett kommen. Um zehn ist von ihm immer noch nichts zu sehen oder zu hören.
    »Julian, geh ihn doch mal wecken«, sagt mein Vater zu mir, »sonst ist der Tag ja bald vorbei.«
    Gehorsam stiefele ich die Treppe hoch und klopfe an Benjamins Tür. Keine Reaktion. Ich klopfe lauter, im Intervall, ungefähr vier Mal. Dann gehe ich rein.
    Anoki liegt auf dem Rücken, hat die Arme hinter dem Kopf verschränkt, guckt zur Decke hoch und raucht. Er würdigt mich keines Blickes.
    »Hey, bist du bescheuert?«, schreie ich und entreiße ihm die Zigarette. »Du kannst doch hier drin nicht rauchen, du krankes Arschloch!« Ich drücke sie in dem Aschenbecher auf dem Nachttisch aus, der mindestens zehn weitere Kippen enthält.
    »Wieso, Fenster ist doch auf«, meint Anoki, unberührt sowohl von meiner Wortwahl als auch von meinem abrupten Eingriff.
    »Das ist nicht der Punkt«, sage ich scharf. »Du bist hier im Zimmer meines Bruders – schon vergessen? Hier drin wird nicht geraucht.«
    Anoki mustert mich träge und gibt keine Antwort.
    »Los, steh auf«, sage ich, »meine Eltern warten mit dem Frühstück.«
    Er guckt wieder hoch an die Decke, als müsse er darüber nachdenken, rappelt sich dann aber mit einem Seufzer hoch und setzt sich auf den Bettrand. Seine Schlafbekleidung ist ein verblichenes schwarzes T-Shirt mit Löchern an den Nähten und ausgeleierte hellgraue Boxershorts.
    »Komm runter, wenn du fertig bist«, sage ich im Rausgehen, »und sorg dafür, dass diese Kippen hier verschwinden!«
    Eine halbe Stunde später erscheint Anoki im Esszimmer. Er riecht frisch geduscht und ein bisschen nach Rauch, und er isst mit derselben passiven Beharrlichkeit wie gestern Abend. Ich bin fast sicher, wenn man ihm den halbvollen Teller wegzöge, würde er keine Anstalten machen, ihn zurückzuerobern, und wenn man ihm seinen Teller immer wieder nachfüllte, würde er nie aufhören zu essen. Er scheint es gewohnt zu sein, zu funktionieren, ohne viel über sein Tun nachzudenken. Stattdessen geht irgendwas anderes in seinem Köpfchen vor, etwas möglicherweise Beunruhigendes, Subversives oder Gewaltsames, aber davon lässt er nichts nach außen dringen. Na ja. Vielleicht interpretiere ich auch zu viel in ihn rein. Jedenfalls ist er wenig überraschend mit allem einverstanden, was meine Mutter für den Tag geplant hat: als Erstes ein Ausflug zum Kletterturm, danach Pizza backen, anschließend Kino und abends noch ein Bummel über den Martinimarkt. Neidisch frage ich mich im Stillen, wann meine Eltern sich das letzte Mal ein derart pralles Programm für mich ausgedacht haben – vermutlich an meinem fünften Geburtstag. Und dieser verlauste Flegel mit seinem Pussykätzchennamen taucht aus dem Nichts hier auf und …
    Beim Klettern erweist sich Anoki als außerordentlich geschickt. Ich komme nicht mal halb so weit wie er. Ohne erkennbare Anstrengung krabbelt er die Wände hoch wie ein Gecko. Pah, er wiegt ja auch höchstens fünfzig Kilo. Trotzdem ärgert es mich. Danach geht es ans Pizzabacken. Ich sehe mir mit meinem Vater ein Fußballspiel im Fernsehen an, während Anoki und meine Mutter in der Küche rumturnen. Sie wird das bestimmt genießen, ihn ganz für sich zu haben.
    Nach dem Essen ist die Stimmung ziemlich entspannt, deshalb wage ich, ihn zu fragen: »Deine Eltern, wie sind die denn so?« Ich bin sehr stolz auf die Verwendung des Präsens, das finde ich ungeheuer taktvoll, weil es sich ja sonst so anhören würde, als wären sie tatsächlich tot. Ein paar Atemzüge lang bekomme ich keine Antwort.
    Dann sagt Anoki: »Eigentlich ziemlich cool. Als meine Mutter so alt war wie ich, war die schon mit mir schwanger. Und mein Vater war da achtzehn.«
    Oha! Da wechselt die gesamte Familie Trojan unbehagliche Blicke. Und mir wird schlagartig klar, warum der Bengel offensichtlich so ein frühreifes Früchtchen ist.
    »Ihr findet das abartig, was?«, stellt Anoki mehr oder weniger gefühlsneutral fest. »Hat aber ’ne Menge Vorteile, wenn man so junge Eltern hat. Das sind dann mehr so Geschwister.«
    Ich
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