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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition)
Autoren: T.A. Wegberg
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ich ab und zu ein paar scharfe Blicke in seine Richtung ab, die er grundsätzlich erwidert – mit einer Ungerührtheit, die mich ärgert. Wenn er mir in die Augen sieht, dann tut er das nachdenklich, aber gelassen. Ich wünsche mir, dass er Angst vor mir hat. Er soll wissen, dass ich ihn hier nicht haben will. Er weckt in mir allerhand niedere Instinkte, und ich fühle mich ihm haushoch überlegen. Ich habe das Bedürfnis, ihn zu demütigen und aus der Fassung zu bringen.
    Bisher habe ich praktisch nicht mit Anoki geredet, außer ein gemurmeltes »Hallo«, aber jetzt kann ich mich nicht länger zurückhalten. Er hat die Mütze abgenommen, und ich starre eine Weile seine chaotischen Dreadlocks an, ehe ich frage: »Wie lange darf man sich die Haare nicht waschen, damit sie so aussehen?«
    Darauf sagt er bloß: »Du hast nicht viel Ahnung von Dreads, oder?«
    Ich bin geschockt. Was nimmt sich dieser vierzehnjährige Rotzlöffel hier in meinem Elternhaus heraus? Wie redet der mit mir? Noch ehe mir eine vernichtende Antwort einfällt, fährt er fort: »Ich wasch mir die Haare regelmäßig. Also, keine Panik, ich hab kein Ungeziefer auf’m Kopf.«
    Hilfesuchend sehe ich zu meiner Mutter rüber, aber die guckt mich nur strafend an: Wie konntest du den armen kleinen Schatz so beleidigen? Okay, ich hab verstanden. Ich bin hier eine Nebenfigur, noch dazu mit einer Schuld, die abzutragen ein einziges Leben nicht ausreicht. Anoki ist ein hilf- und elternloses Mäuslein, das man nur mit Samthandschuhen anzufassen hat, und ich unsensibler Klotz habe mal wieder voll danebengegriffen. Erst kille ich Benni, und dann attackiere ich noch das Perserkätzchen. Okay! Ich sage kein Wort mehr und kippe stattdessen ein Glas Bier nach dem anderen in mich rein.

 
 
4
    Das Essen ist beendet, wir gehen rüber ins Wohnzimmer. Die Atmosphäre ist etwas verkrampft und angespannt, weil keiner so richtig weiß, was er sagen soll. Anoki lümmelt in einem Sessel herum, und während meine Mutter den Tisch abräumt, fragt er meinen Vater: »Kann ich hier rauchen?«
    Der starrt ihn voller Entsetzen an und räuspert sich ausgiebig. »Ähm, rauchen? Tja, weißt du …« Hilflos wendet er den Kopf in Richtung Esszimmer, aber meine Mutter ist außer Hör- und Sichtweite. »Also, du bist doch erst vierzehn«, versucht er das Problem schließlich allein zu lösen. »Du darfst ja eigentlich noch gar nicht rauchen.«
    Anoki zuckt gleichgültig die Achseln. »Ah, okay.« Er unternimmt keinen weiteren Versuch, sich seine Nikotindosis zu verschaffen. Entweder hat er gerade beschlossen, dass er heimlich auf dem Klo rauchen wird, oder er hat die Frage nur gestellt, um meinen Vater zu provozieren.
    Der greift jetzt den Faden auf, um überhaupt ein Gespräch in Gang zu bringen. »Wie ist das denn im Heim? Dürft ihr da rauchen?«, erkundigt er sich.
    »Nee«, sagt Anoki. Sonst nichts. Er macht das offenbar bewusst und vorsätzlich. Es bereitet ihm vermutlich ein sadistisches Vergnügen, meinen Eltern bei ihren hilflosen Konversationsversuchen zuzusehen.
    Ich beschließe, dass ich eingreifen muss, und stelle ihm eine Frage, die hoffentlich zu persönlich ist, um sie mit einem Wort zu beantworten.
    »Und deine Eltern sind beide tot?« Tatsächlich geht ein minimaler Ruck durch seinen träge hingegossenen Körper.
    »Die sind nicht tot«, sagt er mit einem Hauch von Aggressivität. »Die haben mich bloß vergessen.«
    Mein Vater und ich wechseln fragende Blicke, und auch meine Mutter, die gerade reinkommt und ihren Platz auf der Couch einnimmt, macht große Augen.
    »Wie meinst du das?«, fragt sie.
    Anoki zupft an einem Pflaster an seinem linken Zeigefinger herum. »Na, vergessen eben. Wir waren mit’m Auto unterwegs, weil wir am Umziehen waren, und ich musste pissen. Und als ich vom Klo zurückkam, da waren die weg. Keine Ahnung.« Er hebt vage und etwas unwillig die Schultern und wendet den Blick nicht von seinem Pflaster ab.
    Gegen meinen Willen bin ich erschüttert. Was sind denn das für Eltern? Wie kann man denn sein Kind an einem Rastplatz vergessen?
    »Und wann war das?«, frage ich mit belegter Stimme.
    »So vor vier Jahren ungefähr«, sagt Anoki.
    Nach und nach ziehen wir ihm die ganze Geschichte aus der Nase, was mühsam ist und mich viel stärker berührt, als ich möchte. Offenbar hat er zeit seines Lebens mit seinen Eltern in irgendwelchen besetzten Häusern und anarchistischen Wohngemeinschaften gelebt. An diesem Tag vor vier Jahren war gerade mal
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